Was allein das Herz erkennt (German Edition)
sämtlichen Obstgärten im Tal den Hügel hinauf. Serge schlenderte zur Außenmauer des Hofes. Sie war zu dick und zu hoch, vereitelte jeden Gedanken an einen Ausbruch, aber er hatte trotzdem nur eines im Sinn: zu fliehen, um Martin beizustehen. Sein Sohn litt, und Serge konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Er musste mindestens noch weitere drei Jahre verbüßen, bei guter Führung.
Als er einen dumpfen Aufprall vernahm, bemerkte er den Jungen, der außerhalb der Mauer stand. Ricky, Tinos Sohn; er warf den Ball gegen die Wand des Gebäudes und fing ihn mit seinem Baseballhandschuh. Er trug seine Yankees-Kappe und eine dunkelblaue Jacke, sein Gesicht wies Schmutzstreifen auf. Serge beobachtete seine Grifftechnik, wie er den Arm beim Werfen hielt. Als der Junge aufblickte und Serge entdeckte, lächelte er.
»Du sollst nicht mit mir reden«, sagte Serge schroff.
»Ich weiß.« Das schmutzige Gesicht des Jungen strahlte.
»Du musst den Arm beim Werfen ausstrecken.«
»Häh?«
»So wie es die Pitcher machen. Schau her.«
Der Junge versuchte es.
»Noch mal. Den Arm richtig durchstrecken.«
Er versuchte es wieder.
»So ist es besser.«
Ermutigt streckte sich der Junge dem Ball nach und fing ihn sicher wieder auf. Er versuchte es wieder, und Serge hätte schwören mögen, dass sich seine Haltung verbesserte.
»Sieht aus, als hättest du das Zeug, einer von den ganz Großen zu werden. Wie Tino Martinez.«
Der Junge grinste, und Serge fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt. Er sah Martin auf dem Eis vor sich, der strahlte, als er ihm erzählt hatte, er werde eines Tages genauso gut sein wie Bobby Orr, Maurice Richard, oder Doug Harvey. Bei dem Gedanken an seinen Sohn hatte er ein Engefühl in der Brust.
Ricky spielte unentwegt weiter, verbesserte seine Wurftechnik mit jedem Versuch. Serge kommentierte, korrigierte, spornte ihn an. Er wusste nicht, warum, aber Tinos Sohn etwas beizubringen war für ihn wie ein Gebet mit der Bitte, Martins Augenlicht zu erhalten, ihm die Chance zu geben, irgendwann wieder Eishockey spielen zu können.
»Sieht gut aus«, sagte Serge durch die Gitterstäbe. »Sieht wirklich gut aus, Junge.«
28
A ls der Verband entfernt wurde, merkte Martin, dass er weniger sah als vorher. Teddy hatte ihn vor dieser Möglichkeit gewarnt, aber die Realität verursachte Schockwellen, die alle Mitglieder des Haushalts zu spüren bekamen. Martin behielt seine Gefühle meistens für sich, unwillig oder unfähig, mit May darüber zu sprechen, und sie vermisste den Austausch mehr, als sie glauben konnte.
Im September kehrten sie nach Boston zurück, da die Schule wieder begann. Martin verbrachte die Tage damit, im Dunkeln zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren. Wenn May einen Spaziergang am Charles River vorschlug, sagte er ihr, sie solle allein gehen. Als in Kylies Klasse ein Rechtschreibwettbewerb abgehalten wurde, behauptete er, er sei zu müde, um mitzukommen. Thunder wurde zu seinem ständigen Begleiter und saß die meiste Zeit zu seinen Füßen.
Als die Eishockeysaison begann, war es das erste Mal seit vierzehn Jahren, dass Martin nicht mehr in der einen oder anderen NHL-Profimannschaft mitmischte. Er lehnte es ab, die Spiele im Radio oder auf seinem Fernseher zu verfolgen. May erbot sich, ihm die einschlägigen Artikel aus der Zeitung vorzulesen, aber er wollte nichts davon hören. Eishockey gehöre ein für allemal der Vergangenheit an, sagte er, und dass sie ihn inzwischen gut genug kennen müsse, um es dabei bewenden zu lassen.
Die Gardners wollten ihn sehen, aber er sagte ab. May traf sich mit Genny zum Mittagessen oder Kaffeetrinken, aber immer außer Haus. Martin wollte keinen Besuch und verbot May, mit irgendjemandem über seinen Genesungsprozess zu sprechen, aber in einem Fall widersetzte sie sich seinen Wünschen.
»Es ist keinerlei Besserung festzustellen«, sagte May. Tobin war an einem der ersten Novembertage nach Boston gekommen, und sie fuhren mit den Rädern am Fluss entlang. Das Herbstlaub raschelte auf dem Gehweg und die College-Rudermannschaften glitten in ihren schlanken weißen Booten durch das dunkle, stählern glänzende Wasser.
»Überhaupt keine?«
»Er kann uns gar nicht mehr sehen. Und er spricht mit niemandem, auch nicht mit mir. Ich glaube, dass er mir einen Grund geben will, ihn zu verlassen.« Dann brach die ganze Wahrheit aus ihr heraus. »Er schläft nicht mehr mit mir. Wir haben getrennte Zimmer. Er behauptet, das läge daran, dass seine Augen
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