Was allein das Herz erkennt (German Edition)
zusammengebissenen Zähnen. »Schießt das verdammte Ding ins Tor.«
Martin hob den rechten Arm, holte aus und donnerte den Puck in Richtung Netz. Jorgensen blockte ab. Ray Gardner erwischte den Puck und bremste dabei Martin aus.
»Gib ihn an Martin weiter, idiot «, zischte Serge. Verdammt, wie er den Stil von Coach Dafoe hasste! Er hatte selbst NHL–Mannschaften trainiert und hätte wetten mögen, dass Coach Dafoe einerseits Martin ermahnte, zu schießen, und dem Team gleichzeitig predigte, Martin Zeit zu verschaffen, bis er die richtige Schussposition eingenommen hatte. Aber Martin musste man keine Zeit verschaffen, sondern den Puck.
»Haste bei dem Spiel um Kohle gewettet?«, fragte einer der Veteranen im Knast.
»Klappe!«, erwiderte Serge.
»Dein Junge ist alt«, warf ein anderer ein. »Zu alt, um den Stanley Cup zu gewinnen. Die werden ihm in den Arsch treten, dass ihm Hören und Sehen vergeht.«
»Wenn ich Jorgensen wäre, würde ich ihm die Eier abschneiden.«
»Was für Eier?«
»He Mann, dass dem Hammer Mumm fehlt, kann man nich sagen. Kann man wirklich nich sagen.«
»Aber für Eishockey ist er zu alt, Mann.«
»Im Ernst, Serge – hast du bei dem Spiel um Geld gewettet?« Serge hörte nicht länger zu. Nach vorne gebeugt starrte er wortlos auf den Fernsehschirm. Die Stimmen ringsum dröhnten, hallten an den Betonwänden wider. Die Aufseher standen in der Nähe, genauso interessiert an dem Spiel wie alle anderen. Einer von ihnen erkundigte sich, ob Martin seinen Vater angerufen, sich Tipps von ihm geholt hatte. Serge presste die Lippen zusammen.
»Bist du taub?«, fragte der Wärter lauter. »Hat Martin seinen Daddy angerufen?«
Serges Augen verengten sich, er konzentrierte sich auf den Fernseher. Das Herz in seiner Brust fühlte sich klein und hart an, trocken wie ein Teerklumpen. Martin hatte schon lange nicht mehr angerufen oder ihn besucht. Das war Serges Privatangelegenheit, und sie ging niemanden etwas an. Im Zellenblock war es genauso laut wie in der Umkleidekabine, der Lärm prallte an den Wänden ab. Der Wächter klopfte ihm unsanft auf die Schulter, aber Serge ließ sich nicht ablenken, fixierte den Fernseher. Der alte Mann fragte sich, ob Martin auf seinen Coach hörte.
»Konzentrieren«, schien Dafoe zu sagen, nach der Bewegung seiner Lippen zu urteilen. »Disziplin.«
Serge ignorierte alles andere um ihn herum, konzentrierte sich nur auf das Spiel. Zwischen den Bruins und den Oilers stand es unentschieden, 1:1.
*
Martin kämpfte um sein Leben, das Gefühl hatte er zumindest. Er hatte ein Tor erzielt, aber Jorgensen war es gelungen, alle seine anderen Schüsse abzublocken. Edmonton hatte sich revanchiert und mit 2:1 die Führung übernommen, und Martin las in den Augen die Siegessicherheit seines Erzfeindes, der sein vernarbtes Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzog.
Er hörte, wie die Boston-Fans in Sprechchören ein Tor forderten. Sie warfen alle möglichen Gegenstände auf das Eis und die Polizei musste einschreiten. Als Martin einen kurzen Blick auf die Zuschauertribünen warf, konnte er Plakate sehen, auf denen stand: Der Cartier-Fluch; Jetzt oder nie; Cartiers Niederlage. Martin dachte an seinen Vater, fragte sich, ob er wohl im Gefängnis das Spiel verfolgte.
Oh Gott, lass mich gewinnen. Das Gebet kam aus dem Nirgendwo. Er wünschte sich den Sieg für May, für sich selbst. Martin hörte die Fans johlen. Er dachte an all die Zeitungsberichte über seinen Vater, der gegen seine eigene Mannschaft gewettet, das Spiel manipuliert und den Sport in Verruf gebracht hatte. Serge Cartier, der große NHL-Stürmer und dreimalige Cup-Gewinner. CARTIER: GITTER STATT GOLD, hatte eine Schlagzeile geheißen.
Martin wollte den Namen reinwaschen. Er wollte seinem Vater beweisen, was in ihm steckte, wollte der Welt beweisen, dass der Name Cartier im Eishockey noch immer etwas galt. Obwohl die eigene Karriere seines Vaters ins Zwielicht geraten war, sollte er stolz auf ihn sein. Aber dann dachte Martin an Natalie, dass die Spielsucht seines Vaters sie das Leben gekostet hatte, und er stöhnte auf.
Es war ein Grollen, das tief aus seinem Innern kam, so laut, dass alle im Stadion es hören konnten. Es klang, als stamme es von einem wilden Tier. Martin versuchte, sich auf das Tor zu konzentrieren, übernahm den Puck von Ray. Die Uhr tickte. Er preschte über das Eis, näherte sich dem Tor vom rechten Flügel.
»Schieß!«, brüllten die Zuschauer.
Schieß, sagte sich Martin.
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