Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Rädern den schmalen Feldweg entlang, Seite an Seite, bis sie zu einer Kreuzung und an eine Straße gelangten, auf der wesentlich mehr Verkehr herrschte. May hielt an und umklammerte die Lenkstange, die Füße rechts und links auf den Boden gestemmt. Ein Auto nach dem anderen fuhr mit hoher Geschwindigkeit vorbei.
»Bist du sicher, dass du hier entlangfahren willst?«
»Nur kurz. Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie.
Martin nickte und stieg auf sein Rad. Er überquerte als Erster die Straße und sah dabei über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass May direkt hinter ihm war. Sie fuhren hintereinander auf der Innenseite der Randmarkierung und May spürte, dass ihr Herz mit jeder Umdrehung der Pedalen schneller schlug.
Dabei hätte sie nicht genau sagen können, was sie hier tat. Tante Enid würde es nie verstehen. Tobin schon, aber May hatte nicht vor, es ihr zu erzählen. Irgendetwas trieb sie hierher, als wollte sie diesen Teil so schnell wie möglich hinter sich bringen und Martin in das wichtigste Geheimnis ihres Lebens einweihen.
Eine stetige, wenn auch weit auseinander gezogene Fahrzeugkolonne überholte sie, die Fahrer waren meist Leute, die in der Gegend arbeiteten oder wohnten. Vans, Limousinen und Kombis. Als ein großer mit Müll beladener LKW an ihnen vorbeiratterte, fühlte sich May innerlich aufgewühlt. Sie fuhren an einem Weiher zu ihrer Linken und einer Farm zu ihrer Rechten vorüber. Die Straße machte eine Kurve, zerklüftete Granitfelsen ragten zu beiden Seiten auf.
»Hier ist es.« Sie hielt an, den Blick auf die Straße fixiert.
»Was ist hier?« Er sah sich suchend um. Sein Blick war erwartungsvoll: May hatte ihm viele Sehenswürdigkeiten gezeigt, die Glanzlichter und das idyllische, grüne Umland ihres geliebten Black Hall. Aber hier gab es nichts zu sehen, was der Rede wert gewesen wäre.
May stieg ab und Martin tat es ihr nach. Sie lehnten die Räder an eine zerbröckelnde Steinmauer, den Rucksack legte Martin auf den Boden. Sie ging zur Straße zurück, Martin dicht hinter ihr. Der Verkehr brauste in beängstigender Nähe vorbei, so dass sie den heißen Fahrtwind und die Abgase auf ihrem Gesicht spürte.
»Ziemlich stark befahren, diese Straße.«
»Das ist nicht irgendeine Straße«, sagte sie ruhig.
»Sondern?«
»Meine Eltern sind hier gestorben.«
»Genau hier?«
Sie nickte und starrte zu Boden. Der Lastwagen hatte das Auto ihrer Eltern frontal erwischt, es war ins Schleudern geraten, von der Straße abgekommen und gegen die Felsen geprallt. Sie waren beide auf der Stelle tot gewesen, aber May hatte sich, wenn sie im Schulbus am Unfallort vorbeigekommen war, noch Jahre lang eingebildet, dass sie ihren Namen riefen.
»Da war eine Blutlache auf der Straße.«
»Wie lange ist das her?«
»Vierundzwanzig Jahre.« Allem Anschein nach waren Kylie und sie doch aus demselben Holz geschnitzt, sahen Geister und Engel, hörten Stimmen … Rosen und Heilkräutern magische Kräfte zuzuschreiben war nichts dagegen. Die eigentliche Ähnlichkeit bestand darin, wie sie den Toten lauschten, ihre Herzen den Geistern öffneten.
»Du hast deine Eltern sehr früh verloren.«
»Viel zu früh!« Sie hatte ein Engegefühl in der Brust. Ihr Innerstes befand sich in Aufruhr, sie hatte das Bedürfnis, Martin alles zu erklären, damit er verstand. Was damals bei dem Unfall geschehen war, hatte sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute war, hatte Aspekte ihrer Persönlichkeit geprägt, die sie weder begriff noch abzulegen vermochte.
Er versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber sie entzog sich ihm, trat einen Schritt zurück, weg vom Verkehr.
»Der Schein trügt manchmal«, sagte sie. »Ich bin stark, das hast du richtig erkannt. Ich bin für meine Tochter da, jede Minute, jeden Tag. Ich bin für unseren kleines Familienbetrieb verantwortlich, helfe anderen Frauen, sich ihre Hochzeitsträume zu erfüllen …«
»Ja, das alles bist du.«
»Aber da ist noch etwas.« Sie starrte auf den Asphalt. Sie meinte wieder die dunkle Lache zu sehen – Blut oder Öl, sie hatte es nie herausgefunden –, die noch Monate nach dem Unfall sichtbar gewesen war. Sie hatte inständig gebetet, dass es nicht schneien oder regnen möge, dass die Spuren unangetastet blieben.
»Was, May?«
»Ich habe hier einen Teil von mir selbst verloren.«
»Es ist verständlich, dass du so denkst. Du warst damals noch ein Kind und kamst aus einer Familie, die sich sehr nahe stand. Der Verlust von Mutter und
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