Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Vater – da hat man natürlich das Gefühl, etwas von sich selbst verloren zu haben.«
May schüttelte den Kopf. »Nein, Martin, das ist es nicht. Nicht alles, zumindest.«
Er wartete, bis sie den Blick hob.
Sie sah gleichwohl durch ihn hindurch, sah wieder ihren Vater vor sich. Sein Gesicht war so attraktiv wie eh und je mit seinen hohen Wangenknochen, der geraden Nase und den lachenden haselnussbraunen Augen.
Er war schon mit ihr als Baby am Connecticut River entlang nach Selden’s Castle gefahren, auf dem Fahrrad, seine kleine Tochter in einem Tragegestell auf dem Rücken. Er hatte sie segeln gelehrt, den Himmel im Auge zu behalten und aus ihren Beobachtungen Rückschlüsse auf das Wetter abzuleiten. Obwohl sie die Stunden in der Scheune mit ihrer Mutter und Großmutter genoss, hatte sie die Ausflüge mit ihrem Vater immer als etwas Besonderes empfunden.
Tobin hatte ihn ebenfalls geliebt und war am Tag des Unfalls bei May gewesen. Zwei zwölfjährige Mädchen, die Mays Eltern zum Einkaufen begleiten wollten, weil sie wussten, dass dabei Süßigkeiten für sie abfielen. Mays Vater war in Eile gewesen und hatte ihnen eröffnet, dass sie nicht mitkommen könnten.
May holte tief Luft. »Ich war wütend auf meinen Vater, wir haben uns im Streit getrennt. Ein dummer Streit, ganz alltäglich zwischen Eltern und Kindern, nur weil ich nicht zum Einkaufen mitkommen durfte.«
»Er hat dir dadurch das Leben gerettet.«
»Das ist mir inzwischen auch klar. Aber als er damals zur Tür hinausging, hasste ich ihn regelrecht. Wirklich, Martin, ich war auf hundertachtzig. Blind vor Wut, wie es Zwölfjährige sein können. Er sagte noch ›Ich hab dich lieb‹, aber ich drehte mich nicht einmal um. Er wollte mir einen Kuss geben, aber ich ließ es nicht zu.«
»Es war nicht so gemeint; du konntest doch nicht wissen, was passieren würde.«
»Ja. Tief in meinem Innern weiß ich, dass er mir verziehen hat.«
Martin antwortete nicht. Hielt er sie für eine Närrin, weil sie diese Last all die Jahre mit sich herumgetragen hatte? May war mit einem Mal unbehaglich zumute, als sei sie nicht mehr sicher, warum sie ihn überhaupt hierher gebracht und ihm das alles erzählt hatte. Aber nun war es zu spät und sie konnte nur noch eines tun, es ihm erklären. »Es ist noch heute nicht ausgestanden.«
»Was?«, fragte er, als ein PKW mit Bootsanhänger vorüberrauschte.
»Manchmal glaube ich, dass ich die Fähigkeit verloren habe, mich auf Menschen einzulassen, eine echte Beziehung einzugehen.«
»Du?«, fragte er ungläubig.
»Ja. Als ob ich etwas verloren hätte, damals, hier an dieser Stelle, als sie starben.«
»May«, sagte er ernst und zog sie an sich. »Du findest schneller den richtigen Draht zu Menschen als jeder andere, den ich kenne.«
»Ich bringe Menschen zusammen, helfe ihnen bei der Hochzeit.« Tränen traten in ihre Augen, als sie ihren Kopf an seine Brust presste. »Aber manchmal habe ich das Gefühl, worauf ich mich am besten verstehe, sind verpasste Chancen.«
Sie dachte an den Rücken ihres Vaters, als er aus dem Haus gegangen war. Sie dachte an die Männer, auf die ihre Wahl gefallen war, allesamt Enttäuschungen für sie selbst und Kylie. Sie war äußerlich stark, wie Martin gesagt hatte, aber innerlich verunsichert. Ausgehöhlt und voller Angst, als sei ihr Mut vor vierundzwanzig Jahren abhanden gekommen, an dieser Stelle der Straße versickert.
Schweigend kehrten sie zu ihren Rädern zurück. Die Felswände warfen lange Schatten über die Straße und sie setzten die Fahrt mit noch größerer Vorsicht fort. May übernahm die Führung, doch wenn sie eine überschaubare Strecke erreichten, holte Martin sie ein und fuhr, solange es ging, neben ihr her.
Sie kamen an Feldern vorbei und konnten dahinter den Fluss sehen, gesäumt von hohen Bäumen, durch die schräg das klare Sonnenlicht fiel. Mays hatte einen Kloß im Hals angesichts der idyllischen Landschaft und der Gefühle, die an diesem Tag wieder in ihr hochgekommen waren. Als sie Bridal Barn erreichten, bogen sie in den Feldweg ein und nahmen die Abkürzung hinter den Gärten.
May stieg ab. Sie wollte Martin gerade zeigen, wo er sein Rad abstellen konnte, als er sie stürmisch in die Arme nahm. Das Fahrrad fiel klappernd zu Boden, sie achtete nicht darauf.
»Du denkst an verpasste Chancen«, sagte er.
Sie umarmte ihn stumm, wartete.
»Nun, ich werde dafür sorgen, dass du diese Chance nicht verpasst.« Martin zog sie noch enger an
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