Was am Ende bleibt
Menschen, die an ihr vorüberschlenderten oder sich gegen die geschwärzten, vernarbten Pfeiler lehnten, welche die Decke stützten.
Zu ihrer Bestürzung füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie fand ein Taschentuch in ihrer Tasche und suchte Zuflucht hinter einem Automaten mit gekühlten Getränken. Dort fand sie zwei Mitteilungen: Die eine, mit Kreide geschrieben, lautete:
Kiss me someone,
und die andere, mit einem Schlüssel oder einem Messer eingeritzt:
Fuck everybody except Linda
.
Im Zug schlug sie das Buch auf, das sie von ihrem Nachttisch genommen hatte. Es war eine englische Ausgabe von
Renée Mauperin
. Den ganzen Weg bis zur Fulton Street starrte sie auf die Zeichnung der Brüder Goncourt. Beim Umblättern der Seiten fiel ihr Blick auf einen Satz: «Krankheiten wirken im geheimen, ihre zerstörerische Wirkung bleibt oft verborgen.» Auf französisch würde es, so dachte sie, weniger medizinisch, sondern bedrohlicher, allgemeingültiger klingen. Sie klappte das Buch zu und versuchte, den Handschuh über die linke Hand zu ziehen; der Schmerz war sofort da. Er war die ganze Zeit dagewesen, im Inneren ihrer Hand auf der Lauer gelegen. Der Zug war jetzt überfüllt, und es roch nach dem abgestandenen, warmen Suppengeruch von Menschenmengen. Sie hätte ein Taxi in die City nehmen können, aber das wäre Nachgiebigkeit gegen sich selbst gewesen, die dadurch noch widerwärtiger geworden wäre, weil sie sich ein Taxi leisten konnte. Sophie wurde von der Vision gequält, mühelos in eine krankhafte Abhängigkeitvon körperlicher Bequemlichkeit hineinzuschlittern. Jetzt atmete sie entschieden die ekelhafte Luft ein und aus und bedeckte die pulsierende Hand mit der anderen. Je weniger Aufmerksamkeit sie ihr schenkte, um so besser.
Bevor sie zu Claire ging, wo sie erst gegen Mittag erwartet wurde, ging Sophie in den Bazaar Provençal, ein kleines Geschäft für Küchengeräte an der Achtundfünfzigsten Straße East. Sie wollte eine Omelettpfanne kaufen – sie thronte, solide wie ihr Metall, in einem verschwommenen häuslichen Traum: Ein Paar mittleren Alters saß über seinem
omelette aux fines herbes,
dazu zwei Gläser mit Weißwein, ein halber Winzerkäse, zwei Birnen in einer Milchglasschale …
«Diese hier ist besser», sagte eine ältere Frau, deren sackartiges Kinn mit Stoppeln grauer, steifer Haare übersät war. «Ist das die Größe, die Sie wollten?»
«Wie groß ist sie?» fragte Sophie.
«Ich müßte sie ausmessen. Sie müssen in die Pfanne vor Gebrauch Kräuter geben. Haben Sie das gewußt?»
Sophie kaufte statt dessen eine Sanduhr zum Eierkochen. Überflüssig. Der Laden roch nach Holzwolle, eingeöltem Metall und dem leicht brackigen Geruch der Töpferwaren aus Vallauris. Sie reichte der Frau das Geld.
«Ihre Hand blutet», bemerkte die Frau kühl.
«Nein.»
«Doch. Sehen Sie nicht? Sie müssen sich irgendwo angeschlagen haben.»
Ein einziger Tropfen Blut quoll aus der Wunde hervor.
«Oh. Gut möglich.»
Die Frau öffnete eine große schwarze Handtasche und zog ein Kleenex heraus, das sie Sophie zuwarf.
«Wir haben hier drinnen nicht viel Platz», sagte sie. «Alle diese neuen Sendungen sind gestern eingetroffen.»
«Es ist nicht hier drinnen passiert. Bestimmt nicht», sagte Sophie.
«Die Leute müssen schon aufpassen, wo sie hintreten.»
Die Frau schob ein paar Münzen in Sophies Hand. Die Haare auf ihrem Kinn waren wie kleine Metallspäne; sie schienen zu beben wie Fühler auf der Suche nach Beute.
«Ich gebe ja nicht Ihnen die Schuld daran», rief Sophie plötzlich aus.
«Na, na, na!» rief die alte Frau und warf die Hände hoch, als wolle sie einen Fluch abwehren. Sophie steckte das unverpackte Stundenglas in ihre Tasche und ergriff die Flucht.
Claire Fischer wohnte in einer Atelierwohnung nicht weit vom Central Park West. Die äußere Gestalt des Hauses erinnerte stark an eine Ablagerung natürlicher Materie und weniger an menschengemachtes Material. Die gesamte Oberfläche war klumpenweise mit irgendeiner Substanz bedeckt, die wie erstarrter Vogeldreck aussah. Unter den schwarzen Balken der niedrigen Decke in der Eingangshalle sickerte das Licht wie ein Rinnsal durch die schmutzigen Buntglasfenster. Die Wohnungen waren alle zweistöckig und die Mieten irrsinnig hoch. Sophie ging den Dienstbotenaufgang bis in den ersten Stock hoch, wo sie Claires Tür weit offen stehend vorfand. Sie trat ein und verspürte wie immer eine beunruhigende Verblüffung, als sie das über zwei
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