Was am Ende bleibt
und zwischen diesen Drohungen und Verwünschungen, diesen Aufforderungen und Anatomielektionen starrte das Gesicht eines Präsidentschaftskandidaten aus Alabama mit rußigen, toten Augen von seinen Wahlplakaten herunter und erhob Anspruch auf dieses Territorium.
Sein
Land, warnte das Plakat – wählen Sie ihn –, eine Pathologie, die sachte eine andere weckte.
Es waren noch einige Kirchen übriggeblieben, die meisten von ihnen klein, aus roten Ziegeln oder pockennarbigem Stuck. Auch einen großen spanischen Barockdom gab es, dessen Eingang mit Eisengittern versperrt war. Er thronte inmitten dieses kriechenden, eitrigen städtischen Verfalls wie eine große, gefrorene Erhebung, halbtot vor Überheblichkeit.
«Ich wollte, es gäbe einen anderen Weg nach Flynders», murmelte Sophie.
«Lies mir was vor», forderte Otto eindringlich. «Wir haben das bald hinter uns.»
«Es ist von so hoffnungsloser Häßlichkeit.»
«Schau nicht hin», warf er zurück.
Sie schlug das Buch in ihrem Schoß auf. «Ich brauche bald eine Brille», sagte sie und sah auf die Seite hinunter. «Kannst du eigentlich das Telefonbuch noch immer problemlos lesen?» Er hörte ihr nicht zu, sondern blickte durch die Windschutzscheibe starr auf die trostlose Straße vor ihnen.
«Otto?»
«Ich habe mir gerade überlegt, was Charlie gesagt hätte, wenn er gehört hätte, daß ich zu dir ‹Schau nicht hin› sagte. Wie er sich darauf gestürzt hätte! Was für ein Beispiel für mein mangelndes soziales Gewissen!»
«Überlegst du dir eigentlich bei jedem deiner Gedanken, was Charlie dazu zu sagen hätte?»
«Erinnerst du dich, als die Leute vor Jahren mit Vorliebe Thoreau zitierten – diese Zeile über die stille Verzweiflung im Leben der meisten Menschen? Eines Morgens, vielleicht vor einem Monat, ging ich in Charlies Büro und traf ihn vor seinem Schreibtisch lungernd an; er starrte auf ein Stück Papier, auf das er etwas in Blockschrift geschrieben hatte. Ich fragte ihn, leichthin, wie ich damals meinte – obwohl ich, wie du weißt, in diesen Sachen nicht so gut bin –, ob sein Leben ein still verzweifeltes sei? Ich weiß nicht … Der Morgen war sonnig, Sonnenschein auf dem Teppich, und draußen war es kalt, und ich wollte, daß alles in Ordnung war … Er sah mich voller Haß an. Er sagte, daß dieses Zitat ein hervorragendes Beispiel für die Eigenliebe der Spießer sei. Und als ich sagte, daß Thoreau es anders gemeint habe, schrie er, daßdie Absicht
nichts
bedeute, daß die ganze Wahrheit in dem liege, wofür eine Sache
benutzt
werde. Im Wartezimmer saßen Mandanten, und die Telefonleitungen waren blockiert, weil sich so viele Anrufe stauten. Charlie sah mich an wie ein irischer Gorilla, schwankte etwas über seinem Schreibtisch hin und her und war drauf und dran, mich umzubringen. Ich sagte ihm, er sei völlig auf dem Holzweg. Ich war sprachlos über seinen Abscheu vor mir. Dann schrie er los, daß es niemals so schwer gewesen sei, einer Unterdrückung Widerstand entgegenzusetzen wie im Fall der Unterdrückung durch die Bourgeoisie, weil diese tausend Gesichter habe, sogar das Gesicht der Revolution, und daß sie ein unersättlicher Bauch sei, der sich selbst noch von dem Gift ernähren könne, das ihre Feinde ausstreuten, um sie zu vernichten. Ich fragte ihn, was für eine Alternative ihm vorschwebe, und daraufhin rief er seine Sekretärin herein und sagte ihr, sie solle seinen bestellten Mandanten hereinschicken.»
«Aber das Leben
ist
verzweifelt», sagte Sophie kaum hörbar.
«Hast du gerade behauptet, das Leben sei verzweifelt?» fragte Otto und beugte sich zu ihr. Dann lachte er plötzlich los. «Lies mir was vor», sagte er wieder. «Los.» Als der Mercedes sich in den dichter werdenden Verkehr einfädelte, der sich auf dem Highway in Richtung Osten bewegte, las Sophie Otto etwas über die grünen Berge Afrikas vor.
Am frühen Vormittag hielten sie an, um einen Kaffee zu trinken, und sie saßen friedlich und schweigend in der überheizten Imbißstube, bis Otto versuchte, ein Plastikbecherchen mit Sahne zu öffnen, und dabei den ganzen Inhalt über sich verschüttete. Er fing an zu fluchen und schickte seinen Kraftausdrücken die Bemerkung hinterher, daß sich alles immer nur zum Schlimmsten wende.
Jetzt kam er Sophie vertrauter vor als vor zwei Tagen, und plötzlich stellte sie fest, daß er sich seit Freitag beherrscht hatte, seinen
Charakter
ihretwegen beherrscht hatte, als hätte er einen unliebsamen Verwandten,
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