Was am Ende bleibt
haben wirklich Glück», sagte sie.
Otto drehte beim ersten leisen Anzeichen des Frühlings immer den Heizkörper im Schlafzimmer ab, und jetzt war es kühl. Er zitterte, als er sich auszog. Dann stand er nackt da und starrte verblüfft auf das Bett. «Was ist los?» fragte sie.
«Ich habe Hunger, und ich weiß nicht, was ich will.»
Sie machte einige Vorschläge. Er sah immer noch irritiert aus. Dann sagte sie: «Ach, komm ins Bett», und er ließ sich so schwer neben sie fallen, als habe ihn ein Schlag getroffen. Sie ließ die Zeitschriften auf den Boden gleiten, hob dann einen Roman von Balzac von ihrem Nachttisch hoch. Aber Madame de Bargetons Ehrgeiz und schmerzliche Ungeschicklichkeiten fesselten sie nicht. Ihre Gedanken stahlen sich von der Buchseite weg. Otto schlief neben ihr. Sie saß lange gegen ihre Kissen gelehnt da und überlegte, was es war, worüber sie nachdachte, unterhalb der vorgetäuschten Aufmerksamkeit, die sie jenen seltenen
Themen
widmete, die ihr jetzt durch den Kopf gingen.
Ganz bewußt rief sie sich das Wohnzimmer ihres Bauernhäuschens in Flynders ins Gedächtnis, und dann, als dieser helle, vertraute Ort verschwamm, nahm ein anderer Ort Gestalt an: Der kärglich möblierte Salon ihrer Kindheit, ihr Vater und ein Freund, die bis tief in die Nacht miteinander sprachen, während sie schläfrig auf dem viktorianischen Sofa lag und dem Summen der leisen Stimmen der Männer lauschte und auf ihrer Wange den Stich eines Roßhaars spürte, das aus der schwarzen Polsterung bis nach oben gedrungen war, geborgen und von dem Glanz ihres eigenen wahren künftigen Erwachsenenlebens träumend.
Sie legte die Hand auf die Wange und berührte die Stelle, wo das Pferdehaar sie gepikt hatte, und sie schnappte nach Luft angesichts der Wucht einer Erinnerung, die, zwischen zwei Atemzügen, die Entfernung zwischen dem schlaftrunkenen Kind und der erschöpften Erwachsenen auslöschte, als ob es – so dachte sie – alle diese Jahre gebraucht hätte, um die Stufen zum Bett emporzuklettern.
12
Im letzten Augenblick beschlossen sie, im eigenen Haus eine Art Picknick zu veranstalten. Sie konnten in ihrem Wohnzimmer in Flynders ein Feuer anzünden und vor ihrem eigenen Kamin essen.
Der Morgen wirkte nicht gerade vielversprechend: Der Himmel sah stumpf und feucht aus. Doch während die Thermosflasche ausgespült und die Sandwiches in Butterbrotpapier gepackt wurden, herrschte so etwas wie Festtagsstimmung. Aus dem Picknick-Strohkorb rieselten ein paar Körnchen Sand auf den Küchentisch.
Gleich nach dem Aufwachen war Sophie von Hoffnung und verstärkter Unruhe erfüllt gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Katze keine Tollwut hatte, hatte auf geheimnisvolle Weise ihre Angst vor der Möglichkeit gesteigert, daß sie sie doch haben könnte. Sie bewegte sich rasch, packte das Essen zusammen, schichtete geschäftig mit Lammfell gefütterte Mäntel und Handschuhe übereinander, holte die Decke für das Auto und eine Ausgabe von
Jenseits von Afrika,
aus der sie Otto unterwegs vorlesen wollte. Sicher war es in Flynders kälter als in der Stadt. In Flynders gab es noch richtiges Wetter.
«Dir geht es besser», verkündete Otto mit offensichtlicher Erleichterung.
«Ja. Es tut nicht mehr weh. Aber ich bin wie betäubt, wenn ich bloß an diesen Anruf denke –»
«Es darf doch nicht wahr sein, daß du dir
deswegen
Sorgen machst!»
«Immerhin besteht die Möglichkeit.»
«Es ist eine reine Formalität, keine Möglichkeit.»
«Ich habe deine Schlüssel auf der Couch gefunden. Du hast sie wohl heute nacht da fallenlassen.»
«Nimm deine Tablette.»
Sie fuhren viele Meilen durch Queens, wo sich Fabriken, Lagerhäuser und Tankstellen zwischen zweistöckige Zweifamilienhäuser quetschten, die so armselig und schäbig aussahen, daß im Gegensatz zu ihnen die Reihen einförmiger, sauberer Grabsteine, die sich hier und da zwischen den Gebäuden erhoben, eine menschlichere Zukunft zu verheißen schienen. Gehsteige, brutale Platten aus rissigem Beton, zogen sich über ein oder zwei Blocks hin und verloren sich dann plötzlich auf unerklärliche Weise im Nichts, und in der Mitte der asphaltierten Straßen glänzten zwischen den Schlaglöchern kurze Stücke alter Straßenbahnschienen auf. Da und dort stand das Gerippe einer großen neuen Wohnanlage auf einem Baugelände; Baumwurzeln, Steine und Erde türmten sich um ihr Fundament herum auf. Schreie der Langeweile und der Wut waren quer über die Fabrikmauern gekrakelt,
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