Was am Ende bleibt
aufhörte. Sie schlug das Buch über dem Stift zu und stellte es in ein Regal, wusch die Tasse aus und goß Wasser in die Kaffeekanne. Am Montag stand sie oft spät auf, aber diese Säumigkeit beunruhigte sie genauso wie in ihrer Kindheit. Wie damals verspürte sie auch jetzt gleich nach dem Aufwachen stets ein leises Unbehagen, ein Gefühl, als finde sie gerade noch rechtzeitig sicheren Halt. Der Montag war immer ein schreckliches Problem gewesen – einmal hatte sie sogar versucht, die ganze Nacht zum Montag wach zu bleiben, um ihrer Mutter zuvorzukommen, die grimmig und unversöhnlich in ihrer Tür stehen würde –, aber sie war kurz vor der Morgendämmerung eingeschlafen, um zwei Stunden später von ihrer Mutter geweckt zuwerden, die unerbittlich über ihrem Bett in die Hände klatschte, und ihr Gesicht glänzte vom morgendlichen Schrubben, ihr Hauskleid war gestärkt, und sie sagte immer wieder: «Wer früh aufsteht, hat schon gewonnen.» Es waren dreißig Jahre vergangen, seit Sophie von diesem höhnischen Applaus geweckt worden war, aber sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wie die Belohnung aussah, deren Existenz ihr die Worte ihrer Mutter vorgegaukelt hatten. Vielleicht war mit «gewinnen» einfach nur die Tyrannei gemeint gewesen, andere aufzuwecken.
Ein Mann auf der anderen Seite des Weges beobachtete sie. Sie schaute zurück über den stillen, sonnenüberfluteten Platz, der zwischen ihnen lag, war sich aber nicht bewußt, daß sie ihn wirklich ansah, bis sie sein Grinsen sah, das T-Shirt sah, das kurz unter seinem Nabel endete, sah, wie seine Hände, die vor seinen Lenden verschränkt gewesen waren, sich langsam voneinander lösten. Sie drehte sich rasch weg und dachte: Das ist
seine
Belohnung. Als sie dann doch noch einen verstohlenen Blick zurückwarf, sah sie, daß er jetzt einen Säugling in den Armen hielt und seinen Nacken mit einer Inbrunst küßte, die sie fast auf ihrem eigenen fühlte.
Im Haus ihrer Mutter waren jeden Tag Segenssprüche heruntergerattert worden, ein freudloser Katechismus, an dem sie sich (nachdem ihr Vater jeder Rezitation abgeschworen hatte) beteiligen mußte, und sei es auch nur mit einem rituellen «Ja», wenn ihre Mutter schrie: «Du hast Platz, gutes Essen, neue Schuhe, ein eigenes Zimmer, saubere Kleider, Schulbildung, eine gute Herkunft …». Währenddessen aß die kleine Sophie nervös ihre Rosinen und rief: «
Ja, ja, ja
…» Hin und wieder stiegen sie, wenn ihre Mutter darauf bestand, am Sonntag alle drei in den Buick und fuhren dorthin, wo «diearmen Leute» lebten. Es war gegen Ende der Weltwirtschaftskrise, der großen Depression, aber in den Straßen, in denen sie herumfuhren, konnte die Depression niemals enden. Sophies Mutter hatte den Wagen mit stumpfer Tüchtigkeit gesteuert, den Kopf so starr nach vorn gerichtet wie eine Kanone, die Augen geradeaus, mit triumphierendem Schweigen. Wenn sie arme Leute sagte,
meinte
sie arme Leute.
Was hatte Otto empfunden, als er heute irgendwann in der Nacht diese Zeilen las? Hatte das Aufknüpfen von Kindern ihn entsetzt? Aber warum hatte er diese Worte unterstrichen? Glaubte er, der Schrecken des Gesetzes bestehe darin, ihm Genüge tun zu müssen? Oder hatte er an sich selbst gedacht, an seine eigene Sehnsucht nach Ordnung? Oder sollte die doppelte Unterstreichung Ironie ausdrücken? Oder glaubte er, daß das Gesetz nur eine andere
Form
desselben tierischen Impulses war, den es doch gerade zügeln sollte? Sie waren seit fünfzehn Jahren verheiratet. Was wußte sie darüber, was er dachte? Sie kannte ihn in der Dichte ihres gemeinsamen Lebens, nicht außerhalb.
«Was machst du hier schon so früh?»
«Ich trinke», antwortete sie. Otto gähnte und erblickte dann die Whiskyflasche in ihrer Hand.
«Oho! Du trinkst wirklich …»
«Morgens schmeckt er sehr gut», sagte sie. «Viel besser als auf Partys.»
«Zeig mir mal deine Hand.»
Sie streckte sie aus, damit er sie untersuchen konnte. «Die Schwellung ist völlig verschwunden, oder? … Sieht gar nicht übel aus», sagte er.
«Und du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht», sagte sie. «Warst du denn die ganze Nacht auf?» Sie fing an, den Tisch für das Frühstück zu decken.
«Eine Zeitlang. Ich habe gelesen und Tee getrunken. Dann habe ich mich wieder schlafen gelegt, und dann hat mich das Baby geweckt … Du machst dir jetzt keine Sorgen mehr wegen der Tests, die sie an der Katze vornehmen, oder? Ich habe dich noch nie so früh wach
Weitere Kostenlose Bücher