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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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können, wenn du gewollt hättest.«
    »Dann würd ich ja wirklich einen Diener brauchen. Hör zu: Ich möchte, daß du jetzt reingehst. Ich möchte nicht, daß du ganz alleine hier im Dunkeln sitzt. Man weiß ja nie, was für Spinner hier rumlungern. Ich muß nach Hause.« Er ging nicht nach Hause; er wollte weiter seine Runden fahren. Sam beugte sich über sie und stützte die Hände auf die Lehnen ihres hölzernen Schaukelstuhls. »Und zieh den Stecker von dieser gottverdammten Lampe raus.« Er schlenderte davon.
    »Heute ist Labor Day; heute ist die letzte Party. Ich sitze hier und schaue zu. Und ich sehe nicht ein, warum du schon gehen mußt. Du hast doch morgen Spätschicht, oder?« Sam wandte sich auf dem Dock um und betrachtete ihren Hinterkopf, ihre steife Haltung. Dann sagte sie: »Sie schrieb ihren Namen mit ihrem eigenen Blut.«
    Sam blieb noch einen Augenblick stehen und ging dann wieder zu ihr zurück, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. »Sprichst du von Nancy?«
    »Und man sagt, sie hätte ›Boy‹ geschrieben.«
    »Ich glaub nicht, daß sie Boy Chalmers gemeint hat.«
    Maud sah blinzelnd zu ihm hoch. »Wen hat sie dann gemeint?«
    »Ihren Sohn. Ihren kleinen Jungen.«
    »Was? Du glaubst doch nicht, daß er-?«
    »Nein, natürlich nicht. Er ist erst sieben. Nein, ich glaube, sie hat versucht, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Du kanntest Nancy doch, oder? Hat sie nicht mal eine Weile im Rainbow gearbeitet?«
    Maud nickte und starrte zu ihm hoch. »Als Spülerin.«
    »Tja, du weißt sicher, daß sie auch für uns gearbeitet hat, als Putzfrau, abends. Wir haben uns manchmal unterhalten.«
    »Im Rainbow hat sie nie mit jemandem geredet. Das ist aber auch kaum verwunderlich - schließlich unterhalten sich da alle nur mit Shirl. Sie war so schüchtern. Nancy, mein ich. Ich hab versucht, sie zum Reden zu bringen. Aber sie hatte nur Augen fürs Geschirr. Es war furchtbar, wie ihr Mann sie verdroschen hat. Es war furchtbar, daß sie ihr den kleinen Jungen weggenommen haben, als war alles ihre Schuld.«
    »Weißt du, wie sie ihn genannt hat? ›Dear boy, lieber Junge ‹.«
    »Oh.« Es kam als ein gehauchtes, langgezogenes »Ooohh« heraus. »Dear boy.« Diese Art zu sprechen wirkte so furchtbar altmodisch. Maud erinnerte sich plötzlich an ihre Mutter, die den Ausdruck oft verwendet hatte, wenn sie über ihren jüngeren Bruder, Mauds Onkel, sprach. Und der war auch schon tot. An einem Aneurysma gestorben; von einem Barhocker gefallen, als er kaum fünfundvierzig war. Alle fanden das lustig; Maud nicht. Dear boy, lieber Junge.
    »Ich habe ihr geglaubt, als sie erzählt hat, daß ihr Junge die Kellertreppe runtergefallen ist. Ich war draußen bei ihnen. Diese Stufen sind mörderisch. Da war so ein riesiger Haken - weiß Gott, wozu -, der aus der Wand rausstand. Das Kind hätte auf der Treppe leicht fallen und sich den Arm brechen können. Nach all den anderen Unfällen, die der Kleine hatte, wenn dieser Trunkenbold von Ehemann da war - Rick Alonzo, was für ein Schmarotzer da hat sich der Sozialarbeiter wohl gedacht, daß der Junge bei Pflegeeltern besser aufgehoben ist. Das war hart für sie, wirklich hart.«
    Hart? Maud konnte es sich gut vorstellen. Es raubte ihr schon den Atem, wenn sie nur dran dachte.
    Sam fuhr fort. »Sie hat immer den Fußboden auf gewischt, den Scheuerlumpen ausgewrungen und über ihn geredet. Der ›liebe Junge‹ sagte sie immer.«
    Maud lauschte auf den Vogelruf der Klarinette überm See.
    »Billie Anderson hat mich fast aus ihrem Büro geschmissen vor lauter Lachen, als ich ihr klargemacht habe, daß ich nicht dran glaube, daß Nancy irgendeinen Namen geschrieben hat. Da war vorher noch ein Klecks, ein anderes Wort. Und dieses b war kein großes B.«
    Maud spürte eine fast unerträgliche Last auf ihrem Herzen. »Oh, Sam. Du meinst, sie schrieb -«
    »›Dear boy‹, lieber Junge.«
    Sie schwiegen einen langen, langen Augenblick. Maud schaukelte, Sam stand daneben. Dann sagte er: »Bis später«, und verließ das Dock.
    Noch einmal hörte er ihre Stimme hinter sich; er drehte sich um und schüttelte den Kopf. Was denn noch, mit welchen Mitteln wollte ihn Scheherazade denn noch hier festhalten?
    »Das heißt wohl, daß ich meine Geschichte nicht weitererzählen kann; ich kann dir nicht vom Ertrinken erzählen.« Sie griff nach oben und zog an der Perlenschnur der Lampe. Ihr gedämpftes Licht warf einen Kegel aus stumpfem Bernstein über ihr Haar.
    »Was für einem

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