Was am See geschah
strahlenden Licht. Das war gewöhnlich der letzte Schritt. Oder zumindest der letzte Schritt vor dem ersten Schritt ins Land der Toten.
Wenn sie nur durchhielt, würde sie die Panik überwinden können; und so war es auch. Das Pier unter ihren Füßen wurde wieder fest, und alles war, wie es sein sollte. Nur daß sie überzeugt war, sterben zu müssen. Oh, nicht dieses blöde Seele-verläßt-Körper. Es würde kein strahlendes Licht geben, und auch die Toten, die sie geliebt hatte, würden nicht erscheinen.
Sie dachte jetzt an Dr. Hoopers Sohn. Sie hatte einen Schnappschuß von ihm gesehen und fand, daß er sehr gut aussah; er hatte große Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Maud wünschte sich auf einmal, sie hätte Dr. Hooper heute nacht auf das Pier eingeladen. Das war allerdings ein alberner Gedanke; die Vorstellung, jemanden wie Dr. Hooper einzuladen: » Hey, hätten Sie Lust auf einen Drink unten am Pier?« Also wirklich.
Dr. Hooper übernachtete manchmal in der Pension Stuck respektive »Branntwein«, wie das Haus auch genannt wurde. Vielleicht war sie zum Abendessen in eines der Lokale gegangen, das die Leute vom See frequentierten, wie zum Beispiel das Silver Pear, ein Restaurant, das sich auf Kuriositäten spezialisiert hatte. Es war kurios und teuer, und sie und Chad konnten es nicht ausstehen. Dr. Hooper würde es wahrscheinlich auch nicht mögen, obwohl sie es sich ohne weiteres leisten konnte, dort statt im Rainbow zu essen. Schon aus ihrer Kleidung konnte man ersehen, daß sie in ihrem Beruf erfolgreich war. Vielleicht war sie auch im »Branntwein« geblieben und ins Bett gegangen; wahrscheinlich war sie genauso ungern unter Menschen wie Maud selber. Aber zumindest konnte Dr. Hooper sich auf vier oder fünf weitere Jahre freuen, während deren sie ihren Sohn an Wochenenden und in den Ferien sehen würde, denn er ging erst in die zweite Klasse der prep school.
Maud zündete sich eine Zigarette an und beneidete Dr. Hooper. Nein, eigentlich tat sie das nicht, denn ein Nachteil war, daß der Junge bei seinem Vater lebte. Bei seinem Vater lebte und seinen Vater vielleicht sogar lieber mochte, denn hatte ihn seine eigene Mutter nicht im Stich gelassen?
Dr. Hoopers Sohn tat ihr leid. Und sie fragte sich, ob er seiner Mutter je verziehen hatte. In Mauds Augen war sie eine so wunderbare Frau - ruhig, gelassen, intelligent. Hinreißend - ja, hinreißend. Sam hatte das gesagt. Maud dachte an diesen Film mit Meryl Streep und Dustin Hoffman, wo Meryl Streep den Mann und den kleinen Jungen verlassen hatte. Sie erinnerte sich, wie eloquent Meryl sich am Ende verteidigt hatte, und war überzeugt, daß Dr. Hooper das genauso könnte, wenn sie wollte.
Sie selber hätte Chad nie und nimmer so verlassen können, sah dies aber nicht als etwas Positives an. Sie glaubte nicht, daß Meryl Streep und Dr. Hooper ihre Kinder weniger liebten. Sie hatten sich nur an irgendeinem Punkt vorstellen können, auch getrennt von ihnen zu leben. Maud konnte das nicht.
Gut, der Sohn der Hoopers könnte ja durchaus den Vater vorziehen. Aber welches Recht hatte Ned, nachdem er mit dieser Toyota-Verkäuferin davongelaufen war, wieder in ihr Leben hereinzutrampeln und einfach weiterzumachen, fast so, als sei er nie gegangen? Und dadurch in Chads Augen fast einen gewissen Glanz zu gewinnen. Der Verlorene Dad. Der viel liebenswerter war als die daheimgebliebene Mom, die einfach nur da war, und das auf so langweilige Weise.
Oh, Gott, mach dich nicht lächerlich. Und dennoch blieb sie auf der Hut, hielt Ausschau nach Zeichen dafür, daß Chads Zuneigung sich von ihr ab- und Ned zuwandte.
Sie blinzelte über den See. Ein weiteres Paar kam von der Party zum Dock herunter.
Schließlich wußte Chad nicht, warum sein Vater fortgegangen war, und gelegentlich machte er Andeutungen, daß sie vielleicht daran schuld sei. Mit diesem Gedanken spielte er gerne, das wußte Maud, denn er erkannte, wie er dabei Schuld zuweisen konnte. Sie hatte ihm nie erzählt, daß sein Vater mit einer anderen durchgebrannt war. Nicht, weil sie so edelmütig war. Sie hob sich dieses spezielle kleine Überraschungsei bloß auf für den Fall, daß es einmal so aussah, als wolle Chad bocken und zum Feind überlaufen.
Maud kaute an der Haut um den Daumennagel. Na ja, vielleicht war das nicht so ganz genau der Grund, warum sie es Chad nicht erzählt hatte. Eigentlich war es ihr peinlich, daß es ihr gar nicht so viel ausgemacht hatte, als Ned mit dieser Verkäuferin von
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