Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
explizit religiöses Projekt. Es plädiert für eine Koalition von Glaubenden und Nicht-Glaubenden. Für Hans Küng schließt Religionsfreiheit auch die Entscheidung gegen Religion mit ein, zumal ethisch engagierte Menschen nicht selten der Religion kritisch oder distanziert gegenüber stehen.
Auch gläubige Menschen müßten zugeben, daß ohne Religion ein moralisches Leben möglich ist. Inwiefern?
(1) Es gibt biographisch-psychologisch genügend Gründe, warum aufgeklärte Zeitgenossen auf Religion, die zu Obskurantismus, Aberglaube, Volksverdummung und »Opium« verkommen war, verzichten wollen.
(2) Es läßt sich empirisch nicht bestreiten, daß nichtreligiöse Menschen faktisch auch ohne Religion über eine ethische Grundorientierung verfügen und ein moralisches Leben führen, ja, daß es in der Geschichte nicht selten religiös Nichtgläubige waren, die einen neuen Sinn für Menschenwürde vorgelebt und sich oft mehr als religiös Gebundene für Mündigkeit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und die übrigen Menschenrechte eingesetzt haben.
(3) Es läßt sich anthropologisch nicht leugnen, daß viele nichtreligiöse Menschen auch grundsätzlich Ziele und Prioritäten, Werte und Normen, Ideale und Modelle, Kriterien für Wahr und Falsch entwickelt haben und besitzen.
(4) Es läßt sich philosophisch nicht wegdiskutieren, daß dem Menschen als Vernunftwesen eine wirkliche menschliche Autonomie zukommt, die ihn auch ohne Gottesglauben ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit realisieren und seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen läßt: eine Selbstverantwortung und Weltverantwortung.
Entscheidungsfreiheit für oder gegen Religion
Es ist somit unbestreitbar: Von vielen säkularen Menschen wird heute eine Moral vorgelebt, die sich an der Würde eines jeden Menschen ausrichtet; und zu dieser Menschenwürde gehören nach heutigem Verständnis Vernunft und Mündigkeit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und die übrigen Menschenrechte, wie sie sich im Laufe einer langen Geschichte – mühselig genug oft gegen die etablierten Religionen – durchgesetzt haben. Und es ist für den Frieden unter den Völkern, ist für die internationale Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft und Kultur und ist auch für internationale Organisationen wie UNO und UNESCO von allergrößter Bedeutung, daß religiöse Menschen – seien sie nun Juden, Christen oder Muslime, Hindus, Sikhs, Buddhisten, Konfuzianer, Taoisten oder was immer – es Nichtreligiösen, die sich »Humanisten« nennen oder »Marxisten«, zugestehen: auch sie können auf ihre Weise Menschenwürde und Menschenrechte , auch sie können ein humanes Ethos vertreten und verteidigen. Wird doch in der Tat von Gläubigen und Ungläubigen vertreten, was als Artikel 1 in der – nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust am 10. Dezember 1948 verabschiedeten – Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen steht: »Alle Menschen werden frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geiste der Brüderlichkeit verhalten.«
Von daher ergibt sich auch das Recht auf Religionsfreiheit , und zwar – was fanatische Gläubige gern unterschlagen – im doppelten Sinn: Freiheit für Religion einerseits, aber auch Freiheit von Religion andererseits. Das Recht auf Religionsfreiheit schließt also konsequenterweise auch das Recht auf Religionslosigkeit ein: »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht enthält die Freiheit, die Religion oder den Glauben zu wechseln, und die Freiheit, die Religion oder den Glauben allein oder in Gemeinschaft mit anderen sowie öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Erfüllung religiöser Vorschriften zu bekennen« (Artikel 18).
Dies alles läßt sich, scheint es, ganz leicht ohne alle Glaubenssätze mit der menschlichen Vernunft allein begründen. Warum also soll der Mensch nicht, wie dies Immanuel Kant in seiner Programmschrift »Was ist Aufklärung?« forderte, seine »selbstverschuldete Unmündigkeit«, das »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, überwinden und seinen Verstand auch zur Begründung einer Ethik der Vernunft gebrauchen? Dieses Unvermögen liegt ja nach Kant nicht in einem »Mangel des Verstandes, sondern des Mutes« begründet: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Von daher vertreten und verteidigen denn heute auch viele
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