Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Christus geweckt und Engagement in seinem Geist herausgefordert hat. Dieser Ruf der Kirche ist weit davon entfernt, reiner Klang, reines Gotteswort zu sein. Es ist ein sehr menschliches, oft allzu menschliches Rufen. Aber was die Botschaft ist, läßt sich auch bei vielen falschen Tönen und schiefen Taten vernehmen und ist auch immer wieder vernommen worden. Was nicht zuletzt die Gegner bezeugen, die die Kirche – zu Recht – auf diese ihre Botschaft behaften, mit der sie oft so wenig übereinstimmt: Großinquisitorin, Tyrannin, Krämerin statt Sachwalterin.
Wo immer sich die Kirche als die Sachwalterin Jesu Christi erweist, wo immer sie seine Sache privat und öffentlich vertritt, da steht sie im Dienst an den Menschen und ist glaubwürdig. Da kann sie ein Ort sein, wo der Not des einzelnen und gesellschaftlicher Not in einer anderen Tiefe begegnet werden kann, als dies die Leistungs- und Konsumgesellschaft aus sich heraus zu tun vermag. Da kann nämlich aus dem Glauben an das Leben des Gekreuzigten das Wirklichkeit werden, was der verlorene einzelne und die zerrissene Gesellschaft heute so dringend brauchen: eine neue, radikalere Humanität, wo Recht und Macht zwar nicht abgeschafft, aber zum Wohl des Menschen relativiert werden; wo statt Schuld aufgerechnet endlos Vergebung möglich ist; wo, statt nur Positionen gewahrt, bedingungslose Versöhnung erreicht werden kann; statt eines nicht endenden Rechtsstreites die höhere Gerechtigkeit der Liebe; statt des erbarmungslosen Machtkampfes der Friede, der alle Vernunft übersteigt. Also kein Opium der Vertröstung auf ein Jenseits. Vielmehr Aufruf zur Veränderung hier und heute, Veränderung der Gesellschaft radikal durch Veränderung des einzelnen.
Wo immer die Kirche mehr recht als schlecht in Verkündigung und helfender Tat für die Sache Jesu Christi eintritt, da verbindet sie in einer Solidarität der Liebe Entgegengesetztes: Gebildete und Ungebildete, Weiße und Schwarze, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Hohe und Niedrige. Wo immer die Kirche für die Sache Jesu Christi eintritt, da ermöglicht sie die befreiende und befriedende Initiative und Aktivität in dieser Welt von heute. Ja, da ermöglicht sie darüber hinaus ein Durchhalten selbst dort, wo es nicht vorangeht, wo weder die soziale Evolution noch die sozialistische Revolution die Spannungen und Widersprüche der menschlichen Existenz und Gesellschaft zu überwinden vermögen. Da läßt sie den Menschen – und insofern bleibt das Kreuz des lebendigen Christus das unterscheidend Christliche – selbst in abgrundtiefer Ungerechtigkeit, in Unfreiheit und Unfrieden an Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden nicht verzweifeln. Da läßt sie Hoffnung haben nicht nur dort, wo alle hoffen, sondern auch dort, wo nichts mehr zu hoffen ist; läßt Liebe haben, die sogar den Feind einbezieht; läßt Vermenschlichung des Menschen und der Gesellschaft betreiben, wo Menschen nur Unmenschlichkeit verbreiten.
Es sollen hier keine »Hymnen auf die Kirche« gesungen werden. Es soll nur ein wenig angedeutet werden, was der von der Kirche verkündete Glaube an den Gekreuzigten zu wirken vermag. Denn dies alles fällt ja nicht vom Himmel, dies alles kommt nicht von ungefähr. Es steht in Wechselbeziehung und Wechselwirkung zu dem, was – bescheiden genug, aber heute vielleicht doch wieder in größerer Freiheit – in der Kirche, ihrer Verkündigung und ihrem Gottesdienst geschieht. Es wird dies immer wieder neu ermöglicht dadurch, daß irgendwo ein Pfarrer diesen Jesus predigt, ein Katechet christlich unterrichtet, ein einzelner, eine Familie oder Gemeinde ohne Phrasen ernsthaft betet, eine Taufe in Verpflichtung auf den Namen Jesu Christi vollzogen, das Mahl einer engagierten Gemeinschaft mit Konsequenzen für den Alltag gefeiert, aus der Kraft Gottes unbegreiflich die Vergebung der Schuld zugesprochen wird; daß also in Gottesdienst und Menschendienst, in Unterricht und Seelsorge, in Gespräch und Diakonie, in wahrhafter Weise das Evangelium verkündet, vorgelebt und nachgelebt wird, kurz: daß Nachfolge Christi geschieht, die Sache Jesu Christi ernst genommen wird. So also kann die Kirche – und wer sollte es ex professo tun, wenn nicht sie es tut – den Menschen helfen, Mensch, Christ, Christenmensch zu sein und es in der Tat zu bleiben: im Licht und in der Kraft Jesu in der Welt von heute wahrhaft menschlich zu leben, zu handeln, zu leiden und zu sterben, weil durch und durch gehalten von Gott, bis zum Letzten
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