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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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erreicht wurde. Als man ihm die kalten Elektroden an seine rasierten Beine anlegt, wird der Gedanke an die verpfuschte Exekution im Jahre 1990 von Jesse Tafero in Florida unerträglich. Während der ersten beiden Zyklen stiegen Rauch und dreißig Zentimeter hohe Flammen aus Jesses Kopf. Der Leiter des Beerdigungsinstituts, der in dieser Sache einige Erfahrungen hatte, war der Meinung, bei dem etwa handgroßen verkohlten Bereich auf der oberen linken Seite des Schädels handele es sich um Verbrennungen dritten Grades. Aber natürlich war Jesse tot.
    Die Wachen ziehen die Lederriemen um Oberkörper und Taille von Nr. 44371 fest, der jetzt anfängt, schneller zu blinzeln und kräftiger zu schlucken.
    Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als die Gesellschaft aus menschlichen Gründen nicht einmal mehr tollwütige Hunde auf diese Weise vernichtet – und der elektrische Stuhl in den meisten Bundesstaaten bereits seinen Platz in den Horrormuseen neben den Gerätschaften, mit denen Bäuche aufgeschlitzt oder Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, und neben Folterbank, Galgen und Guillotine gefunden hatte –, hätte sich Nr. 44731 einer solch brutalen Art der Hinrichtung nicht mehr aussetzen müssen. Vier Jahre vor seinem Todesurteil nämlich hatte der Gouverneur von Pennsylvania ein Gesetz unterzeichnet, mit dem die Todesspritze zur bevorzugten Hinrichtungsmethode in den Commonwealth-Staaten wurde. Doch der Tod auf dem »Old Sparky«, wie der elektrische Stuhl auch genannt wurde, war die Bedingung, auf die Nr. 44371 bestand, nachdem er sich in seiner Vereinbarung mit dem Bezirksstaatsanwalt in zwei Fällen der Entführung und in zwei Fällen des vorsätzlichen Mordes für schuldig bekannt und unwiderruflich auf alle seine Berufungsrechte verzichtet hatte. Als seine Anwälte sich weigerten, ihn bei seinem Ansinnen zu unterstützen, entzog er ihnen ihr Mandat.
    »Eine tödliche Spritze könnte das Bewusstsein der Gesellschaft benebeln, so dass sie nicht merkt, was sie mit mir vorhat«, erklärte er kühn den anderen Todeskandidaten auf seinem Flur. »Aber die lasse ich mir nicht geben! Ich hoffe, mein Körper verbrennt und brennt dieses Gefängnis gleich mit nieder! Ich will, dass die Geschichte sich daran erinnert, was mir und der Familie Rabun aus Kamenz angetan wurde! Haben die Märtyrer im Kolosseum ihren Glauben geleugnet? Oder Jesus? Würde sich die Welt heute noch an sie erinnern, wenn sie nach einem Nadelstich benebelt in den Tod hinübergeglitten wären? Als die Menschheit Jesus ans Kreuz nagelte, nagelte sie sich selbst ans Kreuz. Und wenn die Menschheit mich auf dem elektrischen Stuhl hinrichtet, richtet sie sich selbst auf dem elektrischen Stuhl hin!«
    Solcher Art waren die Worte, mit denen Nr. 44371 seinen Mut – oder seinen Wahnsinn – ausdrückte.
    Der Bezirksstaatsanwalt war mehr als erfreut darüber, eine Sondergenehmigung vom Gericht zu erwirken, um dem ungewöhnlichen Antrag von Nr. 44371 nachzukommen. Doch trotz des Schuldanerkenntnisses und der unterzeichneten Sondergenehmigung waren fünfzehn Jahre vergangen, weil weder Nr. 44371 noch der Bezirksstaatsanwalt die Möglichkeit von Nebenanträgen seitens der Gegner des elektrischen Stuhls in Betracht gezogen hatten. Nun sind endlich alle Berufungsanträge abgewiesen worden. Der Hinrichtungsbefehl ist unterzeichnet, Old Sparky wurde aus dem Horrormuseum geholt und in die Todeskammer gebracht, die Frist für einen Vollstreckungsaufschub ist verstrichen, und nach langem Warten wird der Wunsch von Nr. 44371 erfüllt. Doch jetzt ist er derjenige, der Zweifel hat.
    Nach all den Jahren, in denen er alles über Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl las, hat er in diesen letzten, schrecklichen Momenten seine Panik nicht mehr unter Kontrolle. Die Ledermaske stinkt vom Erbrochenen anderer toter Männer, die Kupferkappe drückt in seinen rasierten Schädel, die Elektroden schneiden in seine Beine, und seine Hüften und Gliedmaßen sind zu fest an das raue Holz geschnallt. Er stellt sich vor, wie der Strom in seinen Schädel jagt und sein Hirn explodieren lässt wie eine Bombe, bevor er die Wirbelsäule hinabrast und seine Eingeweide mit ungeheurer Hitze miteinander verschmelzen und implodieren lässt. Er stellt sich vor, wie ein wahnsinniger Dämon mit seiner Seele in den Klauen von seinen Beinen springt und in der Erde verschwindet. Und dann ist alles aus.
    Nr. 44371 hört die Atemzüge der Wachen, die jetzt lauter sind als seine eigenen.

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