Was danach geschah
Seine Lungen haben Angst vor dem Atmen, weil der nächste Atemzug der letzte sein könnte.
»Mount Nittany«, murmelt er entmutigt, in dem Versuch, seinen letzten Blick aus seinem Zellenfenster auf den Berg heraufzubeschwören, bevor man ihn gestern in die Isolierzelle brachte. Er hat gehofft, die Erinnerung an diesen letzten Blick auf die Welt könnte ihn in seinen letzten Momenten beruhigen. Und ja, ja, der Zettel! Er hält ihn immer noch in der Hand, ein Ausschnitt aus einer Zeitung, den er seit Jahren in seiner Brieftasche verwahrt hat.
Aber was stand darauf? Wie lauten sie, die Worte? Nr. 44371 hat sie bereits vergessen.
»Doug! Doug!«, ruft er.
»Ich bin hier«, sagt der Wachmann, der beruhigend klingen will, aber selbst mit Nervosität, Angst und seinem schlechten Gewissen zu kämpfen hat. Diese letzten Momente sind von einem Mitgefühl zwischen Insasse und Gefängniswärter geprägt. Sie kennen sich schon so lange, wissen aber auch, dass die Arbeit erledigt werden und jeder seinen Teil dazu beitragen muss. Keiner trägt es dem anderen nach.
»Doug, ich kann es nicht lesen. Lies es mir vor, Doug.«
Nr. 44371, dessen Arme an den Stuhl geschnallt sind, versucht, mit dem Zettel in seinen Fingern zu winken und mit dem Kopf darauf zu deuten, doch er kann sich nicht bewegen.
»Nur noch eine Sekunde«, sagt der Wachmann und dreht sich zu dem schmalen Schlitz in der Wand, hinter der der Henker steht und blinzelt. »Ich denke … ja, sieht aus, als wären sie jetzt so weit.«
»Warte!«, drängt Nr. 44371. »Bitte, Doug. Ich kann mich an die Worte nicht mehr erinnern. Ich habe dir doch nie Probleme gemacht.«
»Okay, okay«, beruhigt ihn Doug. »Ich muss dir den Zettel jetzt sowieso wegnehmen.« Er greift danach. »Nur noch eine Sekunde«, sagt er zum Henker.
»Lies vor, Doug«, wimmert Nr. 44371. »Lies vor.«
»Alles?«, fragt Doug.
»Nein, nur das Unterstrichene«, antwortet Nr. 44371.
»Okay, hör zu:
»Jede gute Tat wird irgendwann bestraft, doch ob eine Tat gut oder schlecht ist, ergibt sich nicht aus der Schwere oder der Natur der Tat selbst, sondern vielmehr daraus, wie groß der Hass denjenigen gegenüber ist, für die diese Tat verübt wurde.«
Nr. 44371 holt tief Luft und lächelt unter seiner Maske.
»Danke, Doug«, sagt er. »Jetzt erinnere ich mich. Du steckst ihn mir in die Tasche, wenn es vorbei ist, ja? Wie du es mir versprochen hast?«
»Klar, Otto«, erwidert Doug, erleichtert, dass der Gefangene sein Schicksal angenommen zu haben scheint. »Klar, wie versprochen.«
34
Im Leben wie im Tod hatte sich Nana rührend um ihre üppigen Töpfe mit rosa und weißem Immergrün, Fleißigen Lieschen, Tagetes, Farnen und einem Dutzend anderer Pflanzen auf ihrer Veranda gekümmert. Rund um ihr Haus hatte sie Efeu und Glyzinien gepflanzt, die an der Balustrade hinaufkletterten wie spielende Kinder. Die Blumen verströmten ihren Duft, lockten Kolibris und Hummeln an, die die im Schatten schlummernden Katzen ärgerten. Wie der Garten hinterm Haus war die vordere Veranda ein eigenes kleines Ökosystem und eine Parabel fürs Leben.
All das änderte sich, als Nana Schemaja verließ, so dass ich mich allein um das Haus kümmern musste. Doch als Luas mich nach meiner ersten Begegnung mit Otto Bowles besuchte, war bereits alles verdorrt und abgestorben. In den Töpfen befand sich nur Erde, vermischt mit vertrockneten Stengeln und Wurzeln. Das Treppengeländer hing durch und schwankte gefährlich in den Windböen, entsandt von der Gewitterwolke, die die vier Jahreszeiten Tag und Nacht belästigte wie ein mörderischer Liebhaber. Die Fenster im Haus waren zerbrochen, der Lack blätterte von den Rahmen ab. Alles sah aus, als hätte hier jahrzehntelang niemand gewohnt. Es gab keine Katzen und Vögel, keine Farbe. Nur Eintönigkeit. Mein Schemaja war grau geworden.
Seit dem Tag, an dem Otto Bowles’ Seele mein Büro betreten und meine Seele infiziert hatte, hatte ich weder Luas gesehen noch das Haus verlassen. Wie benebelt war ich aus meinem Büro und weiter den langen Flur entlanggewankt, durch die Bahnhofshalle, die Vorhalle und den Wald hindurch, die Verandastufen hinauf und ins Haus hinein. Dort blieb ich hinter verschlossenen Türen, durchlebte entsetzt und fasziniert immer wieder sein Leben. Mein Körper alterte mit dem Haus. Mein Haar wurde grau, dünn und spröde. Mein Gesicht zog sich zu dem verängstigten Ausdruck einer alten Frau zusammen, war kaum mehr als ein Schädel, aus dem die Kinn-,
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