Was danach geschah
flüsterte ihm etwas ins Ohr und kehrte an seinen Platz innerhalb des Steins zurück. Ich hatte keine Ahnung, wie ich vom Schlackensteingebäude im Wald in Neros Palast und jetzt in den Gerichtssaal gelangt war. Die Reise war nahtlos vonstattengegangen und hatte mich verwirrt. Luas kam auf mich zu.
»Hallo, Brek«, sagte er. »Es tut mir leid, dass du das gesehen hast. Wie war deine Reise nach Hause?«
»Moment mal«, hielt ich ihn verwirrt auf. »Du hast gerade Nero präsentiert? Den Nero, der angeblich auf seiner Lyra gespielt hat, während Rom brannte?«
»Ja«, antwortete Luas. »Widerlicher Typ, nicht wahr?«
»Aber er starb vor zweitausend Jahren …«
»Ja, und seitdem präsentiere ich ihn immer wieder«, erklärte Luas. »Die Präsentation endet gewöhnlich hier oder gleich, nachdem er den jungen Sporus kastriert und zur Frau genommen hat. Wenn ich am nächsten Tag in den Gerichtssaal zurückkehre, erfahre ich, dass immer noch kein endgültiges Urteil gefällt wurde, und ich muss den Fall erneut präsentieren.« Luas seufzte. »Scheinbar besteht meine Aufgabe darin, Neros Seele an jedem Tag der Ewigkeit vor Gericht zu stellen. Gott ist wohl noch nicht so weit, sich über ihn hier klarzuwerden.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen.
Luas führte mich aus dem Gerichtssaal und den Flur entlang zur Bahnhofshalle.
»Sagtest du nicht, dass wir nur die unklaren Fälle präsentieren?«, fragte ich. »Bei Nero scheint der Fall doch ziemlich eindeutig zu sein.«
»Tja, jede Geschichte hat zwei Seiten. Es mag seltsam klingen, aber Nero verfügte auch über versöhnliche Eigenschaften – ähnlich wie Toby Bowles. Bis dahin komme ich während der Präsentation leider nicht, doch er hatte sie. Aber wir brauchen uns um die Gründe nicht zu kümmern. Nero ist hier Antragsteller, und wir behandeln ihn wie alle anderen. Sei nur froh, dass er nicht dein Mandant ist.«
Bevor wir die Bahnhofshalle erreichten, führte mich Luas um eine Ecke in einen Flur, den ich noch nicht kannte und der so lang war, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Er schien sich bis ins Weltall hinein zu erstrecken, ein Flur in einem riesigen Bürogebäude mit rechts und links buchstäblich Tausenden identischen Büros. Jedes Büro war mit einer hohen, schmalen Holztür verschlossen, die Vorhänge vor den Sprossenfenstern darüber waren zugezogen. Grelle Neonlampen überzogen die Wände mit gleichförmigem, unpersönlichem Bürolicht.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich Luas.
»Hier sind unsere Büros untergebracht. Wie du siehst, gibt es ganz schön viele Anwälte in Schemaja.«
Das überraschte und beeindruckte mich, doch über Neros Verhandlung wunderte ich mich noch mehr. »Nero und Toby Bowles werden also auf dieselbe Weise behandelt?«, fragte ich. »Nichts von dem, was sie in ihrem Leben richtig gemacht haben, spielt im Gerichtssaal eine Rolle? Worin liegt dann der Sinn einer Verhandlung, wenn man sie nicht einmal als eine solche bezeichnen kann? Warum schickt man sie nicht gleich in die Hölle?«
»Ach, schon wieder dieses Thema? Du musst versuchen, das zu verstehen, Brek. Es gibt in Schemaja keine Gesetzbücher oder dergleichen. Das Verfahrensrecht, auf das du als Anwältin auf Erden vertraut hast, wird hier oben nicht gebraucht. Im Gerichtssaal bleibt keine Lüge unerkannt, und keine Wahrheit bleibt verborgen. Die Gerechtigkeit ist gewährleistet, solange die Präsentatoren unparteiisch sind und nichts tun, was die Waage ausschlagen lässt.«
»Aber wie kann es Gerechtigkeit geben, wenn nicht alle Seiten des Falls präsentiert werden?«
»Muss ich dich daran erinnern, dass Millionen von Menschen auf Erden, einschließlich Christus selbst, in ungerechter Weise vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft wurden?«, wies Luas mich zurecht. »Mit Sicherheit braucht Gott von uns keine Lektion in Gerechtigkeit. Natürlich hat Gerechtigkeit viele Facetten, und wir reden hier nur von der Gerechtigkeit dem Angeklagten gegenüber. Du verlorst als kleines Mädchen deinen Arm, Nero Claudius verfolgte die Christen, und Gott ertränkte einst alle Lebewesen auf Erden. Um zu wissen, ob für Gerechtigkeit gesorgt wurde, müssen alle Aspekte berücksichtigt werden.«
Irgendwie erreichten wir das Ende des endlosen Flurs. Luas blieb mit mir vor dem letzten Büro auf der rechten Seite stehen. Auf einem kleinen Schild an der Tür stand: »Hoher Rechtsgelehrter von Schemaja«.
»So, hier sind wir.«
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