Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
Vom Netzwerk:
würde dir auf Dauer nur noch mit Hilfe einer Krise gelingen. Du dachtest darüber nach wegzulaufen, doch damit wärst du von ihnen getrennt gewesen. Du hattest es schon mit deinen Schulnoten versucht, doch die guten Noten ließen sie glauben, mit dir wäre alles in Ordnung, und die schlechten gaben Anlass zur Schelte. Egal, ob du dich wie ein braves oder ein böses Mädchen benahmst, es hatte immer dieselbe Wirkung, und Weinen wirkte nur vorübergehend. Du hattest sogar Krankheiten erfunden, doch die Ärzte bestätigten, dass du kerngesund warst.«
    Der Schmerz wurde unerträglich. »Es reicht!«, rief ich. »Bitte, hör auf.«
    »Deinen nächsten Schritt hattest du nicht geplant«, fuhr Luas unbeirrt fort. »Dein Großvater sagte, du solltest aufpassen, während er mit der Mistgabel den Haufen bearbeitete. Als er fertig war, stieg er vom Behälter nach unten und setzte sich wieder auf den Traktor, ließ aber die Abdeckung über der Transportkette offen. Du sahst, wie die Kette einen Moment unter der Last stockte, dann mit einem Ruck weiter über die Zahnräder surrte und der Dung durch die Luft flog. Genau in dem Moment kam dir der Gedanke, bevor dein Großvater den Motor entkuppeln und die Abdeckung wieder aufsetzen konnte. Du ranntest hin und stecktest deine Hand ins Getriebe. Du dachtest, damit würdest du nur deinen Finger abschneiden oder vielleicht brechen. Am Anfang spürtest du nicht mehr als ein festes Händeschütteln, bevor du erstaunt und ungläubig zusahst, wie dein Unterarm vom Ellbogen gerissen und entlang der Transportkette mitgezogen wurde wie ein Puppenarm auf einem Fließband. Du bliebst wie angewurzelt stehen, als würdest du dich zum ersten Mal im Spiegel sehen und dich dabei beobachten, wie du dich beobachtest, ohne dieses Bild mit dir zu verbinden. Kurz bevor du ohnmächtig wurdest, spürtest du ein Kitzeln am ganzen Körper – keinen Schmerz, sondern das erhebende Gefühl, dass es dir endlich geglückt war, deine Eltern wieder zu vereinen, und alles bald wieder gut sein würde.«
    »Hör auf, Luas«, flehte ich schluchzend. »Bitte, mehr ertrage ich nicht.«
    »Aber es geht noch weiter«, fuhr Luas gefühllos fort. »Noch viel weiter. Dies ist die einzige Möglichkeit, Abstand zu den überwältigenden Erinnerungen der Antragsteller zu bekommen, die du kennenlernen wirst, und genau das ist hier gefordert. Zwei Jahre später, nachdem deine Eltern geschieden und die rechten Ärmel deiner Kleider zugenäht worden waren, tratst du im Bezirksgericht von Huntingdon, wo du später für Gerechtigkeit kämpfen würdest, in den Zeugenstand. Ein junger Anwalt namens Bill Gwynne bat dich, den Geschworenen den entstellten Stummel deines rechten Arms zu zeigen und ihnen zu erzählen, was passiert war. Dies war die schwierigste Zeugenaussage in diesem Fall, weil festgestellt werden musste, ob der Hersteller des Miststreuers haftbar gemacht werden konnte und dir und deiner Familie ein kleines Vermögen als Wiedergutmachung zukommen lassen würde. Im Gerichtssaal herrschte Schweigen, alle feuchten Augen waren auf dich gerichtet. Du hattest deine Zeugenaussage so oft mit Mr Gwynne geübt, dass du tatsächlich an das glaubtest, was du sagen würdest. Er hatte dir Gerechtigkeit versprochen. Du drehtest dich zu den Geschworenen. Erinnerst du dich, was du sagtest?«
    »Ja, ja«, rief ich traumatisiert und beschämt. »Ich erinnere mich. Es ist nicht nötig, dass du das wiederholst.«
    »Doch, das muss ich tun«, erwiderte Luas unbeirrt. »›Ich stand auf den Zehenspitzen und wollte sehen, was mein Großvater macht‹, erzähltest du den Geschworenen. ›Ich bin auf dem nassen Gras ausgerutscht und fiel gegen die Abdeckung. Der Aufprall war nicht stark, aber die Abdeckung hat nachgegeben, und mein Arm ist in die Kette gerutscht …‹ Deine Gefühle wurden so stark, dass du nicht weitererzählen konntest. Die Erinnerung an das Geschehene war zu schmerzlich.«
    Luas’ unbarmherzige Erzählung der Geschichte zeigte die gewünschte Wirkung. Er hatte mich so in meine Erinnerungen eintauchen lassen, dass ich mein Leben mit dem meines zukünftigen Antragstellers nicht vermischen würde. Ich sah mich als zehnjähriges Mädchen im Zeugenstand. Der Richter in seiner schwarzen Robe, alt und furchterregend wie Gott, blickt hinter seiner Bank auf mich herab. Die Stenographin mit dem verkniffenen Gesicht gähnt beim Tippen. Mein Großvater, blass vor Schuld und schlechtem Gewissen, spielt nervös mit seiner Pfeife und

Weitere Kostenlose Bücher