Was danach geschah
wie eine telegraphierte Nachricht von der Gewölbedecke wider und reißt den jungen Angestellten aus seiner Schläfrigkeit. Er verweigert Amina den Zugang zum Gerichtssaal, weil dort im Moment noch in geschlossener Sitzung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit über den Missbrauch einer Minderjährigen verhandelt wird. Er erklärt, der Fall Meinert vs. Meinert werde erst gegen halb elf aufgerufen werden. Und, nein, ihr Anwalt sei noch nicht erschienen.
»Bei schönem Wetter gehen viele Besucher hoch auf die Aussichtsplattform, wenn sie warten müssen«, informiert sie der Angestellte.
Das Wetter ist tatsächlich überraschend schön für Anfang März. Eine verirrte Warmfront aus dem Süden ist die Küste heraufgeeilt und beglückt die Städte bis Montreal hinauf mit drei aufeinanderfolgenden sechzehn Grad warmen Tagen.
»Wo ist die Aussichtsplattform?«, erkundigt sich Amina in ihrem gebrochenen Englisch mit starkem deutschen Akzent.
Der Angestellte blickt sie einen Moment verblüfft an. »Auf dem Dach«, sagt er und deutet nach oben. »Von dort haben Sie einen schönen Blick auf den See. Nehmen Sie den Fahrstuhl dort drüben bis in den achtundzwanzigsten Stock.«
»Danke«, sagt sie.
Amina klemmt sich ihre Handtasche unter den Arm und geht den Flur zurück, vorbei am Standesamt und in die Toilette, um ihr Make-up zu prüfen. Das Spiegelbild beruhigt sie.
George wird es gutgehen , redet sie sich ein. Er versteht es. Du kannst mit ihm so nicht zusammen sein, das kannst du mit keinem Mann. Du hast ihn ermutigt, zu anderen Frauen zu gehen, was großzügig war. Und zum Dank hast du ihm Geld gegeben, damit er ein Geschäft aufbaut. Du schuldest ihm nichts. Du tust das Richtige.
Amina zieht ihren Lippenstift nach.
Aber du hast ihn weinen sehen. Du wusstest nicht, dass Männer weinen können. Dieser Einwand kommt von einer anderen Seite Amina Rabuns, von der tröstenden, die Barbara mit geflüsterten Wiegeliedern beruhigte, nachdem die russischen Soldaten das Haus in Kamenz verlassen hatten. Amina die Tröstende erschien nur selten, und dann immer flehend und bescheiden. Amina die Überlebende – Aminas dominante Seite – verabscheut Amina die Tröstende.
Es war Amina die Überlebende, die Barbara acht Kilometer weit ins Krankenhaus von Kamenz trug und dann ins Gutshaus zurückkehrte, um ihre Mutter, ihren Großvater, ihre Tante und ihre Cousinen zu begraben. Einen Monat später identifizierte Amina die Überlebende die blutigen Leichen ihres Vaters und Onkels in einem Berliner Leichenschauhaus und beerdigte auch sie. Amina die Überlebende machte den Schweizer Anwalt ihres Vaters, Hans Stössel, ausfindig, der auf Aminas Geheiß und für einen Anteil von zwanzig Prozent die Firma Jos. A. Rabun & Söhne AG auflöste und das gesamte Vermögen der Familie Rabun – Ländereien, Ausrüstung, Fahrzeuge, Kunstsammlungen, Gold, Haus und Theatersäle der Familie Schrieberg – auf ein sicheres Schweizer Bankkonto transferierte. Es war Amina die Überlebende, die später die russischen Offiziere bestach, damit sie und Barbara am 13. Mai 1949, einen Tag nach dem Ende der Blockade, einen von einer sowjetischen Lok gezogenen Zug besteigen konnten. Und es war Amina die Überlebende gewesen, nicht Amina die Tröstende, die Captain George Meinert von der US-Armee im Hotel Heidelberg ins Bett, dann, mitsamt Barbara, auf einen Ozeandampfer und schließlich aufs Standesamt im zweiten Stock des Rathauses von Buffalo, New York, lockte.
Doch jetzt tauchen im Toilettenspiegel hinter ihr, während sie die lange Reise überdenkt und ihr Make-up auffrischt, die braunen Schultern und Arme eines anderen Mannes auf. Er trägt einen Helm mit dem roten Stern der russischen Armee, hat aber kein Gesicht. Amina Rabun kennt diesen Mann sehr gut. Seit Jahren lebt sie in Untreue mit ihm zusammen, und er begleitet sie, wohin sie auch geht. Er ist ein eifersüchtiger, grober Mann, doch schon vor langer Zeit gab sie auf, vor ihm zu fliehen, und gewöhnte sich an seine Gegenwart und seine Forderungen. Sie kann ihn täuschen, aber immer nur für kurze Zeit.
Ja, du tust das Richtige, sagt Amina die Überlebende. Du tust das Richtige für George und Barbara, für Bette und deine Mutter, für deinen Großvater, deine Tante, deinen Vater und deinen Onkel. Für alle aus den Familien Hetzel und Rabun. Du wirst sie nicht verraten.
An diesem Spätwintertag steht Amina Rabun auf der Aussichtsplattform des Rathauses und blickt unter einem wolkenlosen
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