Was dein Herz nicht weiß
der Rückseite – auf Englisch, aber ich denke, du kannst sie entziffern.
Komm schnell in deine neue Heimat!
Dein Ehemann
Min
Soo-Ja raste an Mins Schreibtisch und suchte nach der Telefonnummer ihrer Schwiegereltern. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Sie war zu lange fort gewesen. Sie hatte Min zu viel Zeit gelassen, die Entscheidung abzuwägen, und dann hatte er einfach die Koffer gepackt. Es konnte keine spontane Handlung gewesen sein – schließlich kostete es Zeit und Mühe, sich Flugtickets und Touristenvisa zu beschaffen. Soo-Ja fragte sich, ob Min sich in ihrer Abwesenheit einsam gefühlt hatte. Vielleicht hatte sie ihn ja tatsächlich verlassen, indem sie ihren toten Vater dem äußerst lebendigen Min vorgezogen hatte. Und dennoch hatte er sich ihr gegenüber feige und verletzend verhalten. Nicht einmal angerufen hatte er.
Aber warum die plötzliche Abreise? Seit Jahren hatte Min sich danach gesehnt, mit seinem Vater zusammen zu sein, aber sie hätte nie geglaubt, dass er so eigenmächtig handeln würde. Hinter dieser Entscheidung musste noch mehr stecken. Und außerdem, wie konnte er es wagen, Soo-Ja von ihrer Tochter zu trennen! Ohne sie zu fragen! Wie konnte er so egoistisch sein? Hana selbst war vermutlich begeistert, nach Amerika zu fliegen. Sie war noch zu jung, um zu begreifen, was ihr Vater da tat.
Soo-Ja fand die Telefonnummer ihrer Schwiegereltern im inneren Umschlag in einem von Mins Notizbüchern, hingeschmiert mit Kugelschreiber. Es war die längste Nummer, die sie je gewählt hatte, und sie musste sich sehr konzentrieren, weil ihre Hand so zitterte. Atemlos hielt sie sich den Hörer ans Ohr. Fräulein Hong beobachtete sie kummervoll. Als Soo-Ja die Stimme am anderen Ende hörte, wusste sie sofort, wer da sprach. Sie hatte seit fast sieben Jahren nicht mehr mit ihm geredet, aber sie erkannte den harten, ernsten Tonfall auf Anhieb.
»Hallo?«
»Schwiegervater … «
»Mutter von Hana«, sagte er beinahe vorwurfsvoll.
»Ist Hana da? Ich möchte mit ihr sprechen.«
»Sie ist draußen. Im Swimmingpool. Hier ist jetzt Vormittag.«
»Sei so gut und hol sie ans Telefon«, bat Soo-Ja und nahm das Telefonkabel zwischen die Finger. »Und Hanas Vater auch. Ich möchte auch mit ihm reden.«
»Er will aber nicht mit dir reden. Er fürchtet, du könntest ihn vielleicht anschreien. Oder ihn zur Rückkehr überreden«, erklärte der Schwiegervater.
»Willst du damit sagen, du lässt mich nicht mit meiner Tochter oder meinem Ehemann sprechen?«
Der Schwiegervater seufzte, als wäre Soo-Ja zu dumm, um die Sache zu begreifen. »Ich werde deine Tochter für dich erziehen. Unser Schulbezirk ist sehr gut. Wenn sie mit der High School fertig ist, muss sie mir meine Auslagen natürlich zurückzahlen, aber sie kann dann ein paar Jahre in meinem Warendepot arbeiten.«
»Sie wird nicht bei euch bleiben, sondern zu mir zurückkommen«, sagte Soo-Ja mit eiserner Stimme.
Der Schwiegervater antwortete nicht, legte aber auch nicht auf. Es folgte ein längeres Schweigen, und Soo-Ja nahm an, dass er seinen Sohn holte. Genauso wahrscheinlich war es allerdings, dass er einfach den Hörer auf den Tisch gelegt hatte, bis jemand anders ihn wieder auf die Gabel zurückbeförderte.
Soo-Ja fühlte sich, als würde sie in der Zeit schweben; jede Sekunde erschien ihr wie eine Ewigkeit. Dann endlich hörte sie Mins Stimme: »Soo-Ja?«
»Obwohl du mir schon viel Schlimmes angetan hast, hätte ich dir nie zugetraut, mir meine Tochter wegzunehmen«, schrie Soo-Ja in den Hörer.
»Wir fangen hier noch einmal ganz von vorne an, Soo-Ja«, sagte Min, der sich ebenfalls nicht mit Grußformeln aufhielt. »Wir fangen ganz neu an.«
»Wie konntest du nur? Ohne mich zu fragen?«
»Als Vater habe ich offiziell das Recht dazu.«
»Du kommst zurück, und zwar mit Hana«, befahl Soo-Ja. »Sofort, hast du mich verstanden?«
»Soo-Ja, wir haben hier eine einmalige Chance.« Mins Stimme wurde ebenfalls lauter. »In Korea lief es nicht gut für uns, aber in Amerika können wir einen neuen Anfang machen. Dieses Mal machen wir alles richtig.«
»Nein, Amerika wird überhaupt nichts ändern«, blaffte Soo-Ja und schnitt ihm das Wort ab. »Du bist immer noch du, und ich bin immer noch ich. Begreifst du das denn nicht?«
»Es geht ja nicht nur darum, in Amerika zu sein. Es geht auch darum, weg aus Korea zu sein. Weg von … « Mins Stimme erstarb, ohne dass ein bestimmter Name gefallen war.
Er versucht also, Yul
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