Was dein Herz nicht weiß
Rauchschicht eingehüllt wurde. Einen Moment lang sehnte sie sich danach, ihre faltige Hand zu nehmen und sie an ihr eigenes Gesicht zu legen. Die Mutter war klein und gebeugt, aber noch immer stark. Sie führte ein ganz anderes Leben als ihre Tochter.
Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Nachttisch und riss Soo-Ja aus ihren Gedanken. Vermutlich waren es Min und Hana. Es war schon spät, später, als sie sie normalerweise in Seoul anrief, und Soo-Ja dachte, sie machten sich Sorgen. Die Mutter bedeutete ihr, den Hörer abzunehmen und ging diskret aus dem Zimmer.
Doch als Soo-Ja sich meldete, hörte sie nicht Mins Stimme, sondern Fräulein Hongs ländlichen, runden Sigol-Dialekt. Sie schien den Tränen nahe und sprach undeutlich, sodass Soo-Ja eine Weile brauchte, um zu begreifen, wieso das Zimmermädchen sie anrief. Aber selbst als sie die Worte verstanden hatte, konnte sie sie nicht glauben.
Vor Entsetzen ließ sie fast den Hörer fallen.
TEIL VIER
Bambusblüte
Einige Stunden später
Seoul und Los Angeles
17
Als Soo-Ja am späten Abend in Seoul ankam, fand sie ein handgeschriebenes Schild an der Glastür des Hotels: »Geschlossen«. Sie brauchte eine Weile, bis sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür geöffnet hatte, und bereute es, das Angebot ihres Bruders, sie zu begleiten, abgelehnt zu haben. Es war ein Fehler gewesen, zu glauben, sie würde mit der Sache allein fertig werden. Während der Zugfahrt jedoch hatte sie sich eingeredet, das alles wäre bloß ein Missverständnis und Fräulein Hong hätte sie ganz umsonst alarmiert. Min und Hana wären im Hotel, wenn sie ankäme. Sie würden sie umarmen und fragen, warum sie so lange fort gewesen war.
»Mutter von Hana?«, ertönte Fräulein Hongs körperlose Stimme.
»Wo ist Min? Wo ist Hana?«, fragte Soo-Ja und schaltete das Licht ein.
Da kam Fräulein Hongs Körper aus einem der Zimmer und vereinigte sich wieder mit ihrer Stimme. Sie kam in ihrem Hanbok angelaufen, schlüpfte schnell in ihre Hausschuhe und knotete sich das Haar zum Dutt.
»Mutter von Hana, ich habe wirklich versucht, sie aufzuhalten! Seien Sie bitte nicht wütend auf mich.«
»Was ist passiert?«, wollte Soo-Ja wissen. »Wo sind Hana und Min?«
»Das habe ich Ihnen doch schon am Telefon gesagt! Sie sind fort«, sagte Fräulein Hong mit weit aufgerissenen Augen.
»Nein, das kann nicht wahr sein«, murmelte Soo-Ja kopfschüttelnd. Hatte ihr Waffenstillstand so lange angehalten, dass sie die andere Seite ihres Mannes komplett vergessen hatte? »Selbst Min würde mir das nicht antun!«
Fräulein Hong nahm Soo-Ja am Arm und führte sie in ihr Zimmer. Dort auf dem Bett, wo eigentlich ein schlafender Körper hätte ruhen sollen, lag ein Zettel. Fräulein Hong, die ihn entdeckt hatte, wurde plötzlich ganz stumm. Soo-Ja griff nach dem Papier und begann zu lesen.
Liebe Soo-Ja,
so viele Leute wollen nach Amerika gehen und können nicht. Wir aber haben schon Familie dort und das nötige Geld. Darum habe ich beschlossen, dass wir dorthin auswandern.
Keuchend ließ Soo-Ja den Brief sinken. Jetzt konnte sie sich nicht länger einreden, ihre Familie wäre noch in Seoul. Fräulein Hong, die den entgeisterten Ausdruck auf Soo-Jas Gesicht sah, stützte sie und bot ihr an, ein Glas Wasser zu holen. Aber Soo-Ja schüttelte nur den Kopf und las weiter.
Jetzt, wo dein Vater tot ist, ist es wohl recht, wenn der Erlös aus dem Land an Hana geht. Wir werden das Geld für ihre schulische Ausbildung einsetzen. Ich verspreche dir, ich werde es nicht anrühren. Mit Gi-yong Im habe ich vereinbart, dass er das Geld auf unser Konto überweist. Für dich habe ich etwas Bargeld dagelassen, damit du dir ein Flugticket kaufen kannst.
Ich weiß, wir hätten dich fragen sollen, bevor wir alles arrangiert haben. Das hätten wir auch getan – wenn du hier gewesen wärst. Kommst du überhaupt je zurück? Findest du zwei Wochen nicht ein bisschen lang, um uns allein zu lassen? Vermisst du uns denn gar nicht?
Sei bitte nicht wütend auf mich. Ich hatte Angst, du hättest uns nicht gehen lassen, wenn ich dich gefragt hätte. Auf gewisse Weise erspare ich dir doch immerhin eine schwere Entscheidung. Diese Entscheidung hat ein anderer für dich gefällt, und jetzt kannst du dich auf eine großartige Zukunft in einem großartigen Land freuen!
Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe, und ich werde dir alles erklären, wenn du hier bist. Wir werden bei meinen Eltern wohnen. Ihre Adresse findest du auf
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