Was dein Herz nicht weiß
auf seiner edlen weißen Ledercouch saß und sie beobachtete. »Warum sollte ich für ihn arbeiten, wenn ich in Seoul eine eigene Firma gründen könnte?«
Min biss sich auf die Unterlippe – das tat er immer, wenn er aufgeregt war.
»Vater will unser Geld für uns verwalten. Auf diese Weise können wir uns an den Ausgaben meiner Eltern beteiligen. Er meint, wir können nicht erwarten, hier umsonst zu wohnen.«
Soo-Ja stieß ein leises, bitteres Lachen aus.
»Schau dir den Swimmingpool und das schöne Haus an, Min. Was glaubst du, wo das Geld dafür hergekommen ist? Meinst du wirklich, dein Vater würde dich mit offenen Armen aufnehmen, wenn du nicht Geld mitgebracht hättest?«
»Sprich nicht so über ihn. Immerhin ist er mein Vater«, sagte Min.
»Du regst dich bloß über meine Worte auf, weil du dir die Frage selbst schon gestellt hast. Schön, behalt das Geld. Aber gib mir meine Tochter zurück. Das werde ich dir übrigens nie verzeihen.«
Irritiert schaute Min sie an, und sein Gesichtsausdruck bestätigte ihre Vermutung. Er empfand überhaupt keine Schuldgefühle, weil er das Geld an sich genommen hatte, das Geld, das sie mit der Bodenspekulation verdient hatte. Er betrachtete es als sein Eigentum, genau wie Hana und ihre Zukunft – alles gehörte ihm.
»Können wir später darüber sprechen?«, bat Min. »Heute ist Mutters Geburtstag.«
Soo-Ja schloss die Augen und stützte die Stirn auf ihre Hand. Der sechzigste Geburtstag eines Verwandten war ein großes Ereignis, dessen Ablauf durch traditionelle Riten bestimmt wurde. Soo-Ja fragte sich, wann sie das Gespräch mit den Schwiegereltern suchen sollte. Vielleicht nach dem »Darbringen des Blumengrußes«, aber noch vor dem »Lied der Segenswünsche«? Das wäre vermutlich ein geeigneter Augenblick, um sie zu fragen, warum sie sie vor zehn Jahren allein und ohne einen Won zurückgelassen hatten, um in Amerika mit dem Geld ihres Vaters ein neues Leben zu beginnen. Möglicherweise würde Soo-Ja aber auch bis nach dem »feierlichen Anstoßen« warten und erst vor der »Glückwunschrede« handeln. Eventuell wäre das der bessere Moment, um eine Antwort darauf zu verlangen, warum sie Min und Hana nicht nach Korea zurückgeschickt hatten, obwohl sie wussten, dass Hana ohne Soo-Jas Einverständnis hergekommen war.
»Nein, wir können nicht später darüber sprechen. Ich will, dass alle, die heute gekommen sind, erfahren, was für Menschen deine Eltern eigentlich sind«, verkündete Soo-Ja und stand auf. In der Nähe stand ein langer Tisch, auf dem die traditionellen Speisen zum sechzigsten Geburtstag angerichtet waren: geschnittene Reisküchlein, die sich über einen Meter hoch stapelten, und glänzende Birnen auf einer silbernen Etagere.
Mins Eltern hatten am anderen Ende des Tisches Platz genommen, und die Zeremonie würde in Kürze beginnen. Jedes der fünf Kinder und ihre Frauen – in Na-yeongs Fall ihr Mann – würde sich vor den Schwiegereltern verbeugen und ihnen eine Schale Wein darbieten. Der sechzigste Geburtstag der Schwiegermutter bedeutete einen Meilenstein: Sie hatte den sechzig Jahre währenden Zyklus der Tierkreiszeichen vollendet, und jetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben, hatte sich ihr Sternzeichen, der Affe, mit ihrem Yin-Yang-Element, dem Metall, wiedervereinigt. Der bereits verehrten Matriarchin würden noch mehr Ehre, Respekt und Macht zuteilwerden.
»Wenn du eine Szene machst, wird sich keiner auf deine Seite schlagen. Alle halten zu meinen Eltern«, erklärte Min. »Und wenn es darum geht, dass alle erfahren sollen, was für Menschen sie sind … das wissen wir schon längst. Wir sind ja ihre Kinder, nicht wahr?«
Soo-Ja holte tief Luft. Der Frust brodelte in ihren Adern wie Wasser in einem Kessel. »Sei bloß still. Von dir will ich kein Wort mehr hören.«
Soo-Ja saß auf einem der Liegestühle und hielt einen Pappteller mit scharfen Radieschen, Schwefeleiern und Reis in Seetang in der Hand. Sie hatte sich absichtlich ein Stück entfernt von den anderen hingesetzt – vor allem von Min.
Nach kurzer Zeit jedoch ließ sich eine Frau in Soo-Jas Alter, höchstens aber Anfang vierzig, neben ihr nieder. Sie hatte große, üppige Locken, vermutlich eine Dauerwelle. Wahrscheinlich war sie eine entfernte Verwandte, denn sie schien Soo-Ja zu kennen, die die Frau allerdings nicht erkannte.
»Es ist sehr nett von Ihrem Schwiegervater, Sie nach Amerika zu holen«, bemerkte die Frau und setzte sich in ihrem Stuhl zurecht, während sie
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