Was dein Herz nicht weiß
etwas zu sagen.« Soo-Ja beobachtete, wie sich sein Gesicht neu zu formen schien, wie Linien an ungewohnten Stellen entstanden. Er wirkte wie ein Damm vor dem Bersten.
»Ich will nicht … «
»Ich kann nicht für immer in Wartestellung bleiben«, unterbrach Yul. »Ich bin kein Gegenstand, den du ins Regal legen und wieder hervorholen kannst, wann es dir passt. Du hast mich schon so oft abgewiesen, und jetzt ist das Maß voll. Bevor du aus dem Auto steigst, solltest du dir über eines im Klaren sein: Ich kann nicht länger auf dich warten. Wenn du jetzt also sagst, es ist Schluss, dann weißt du hoffentlich, was das bedeutet.« Yul schwieg und wartete auf Soo-Jas Reaktion. »Was sagst du dazu?«
Soo-Ja schüttelte zaghaft den Kopf und wandte den Blick ab. Ihre Hand wanderte wieder zum Türgriff. Der Regen prasselte jetzt auf die Windschutzscheibe, und Soo-Ja hatte das Gefühl, als fiele er ihr direkt ins Gesicht. »Leb wohl, Yul.«
»Sie ist freiwillig mit ihrem Vater mitgegangen«, sagte Yul, und einen Moment lang klang er wie ein Fremder, der mit einem anderen Fremden sprach. »Hast du schon mal darüber nachgedacht? Dass du sie dieses Mal vielleicht nicht wiederbekommst?«
Soo-Ja drehte sich um und sah ihn an. Dann holte sie tief Luft. »Natürlich.«
»Begreifst du denn nicht? Was du auch tust, du wirst jemanden verlieren – entweder mich oder deine Tochter. Vielleicht auch uns beide. Vielleicht bringst du es ja fertig, uns alle zu verlieren. Verrückt, wie viel auf dem Spiel steht, nicht wahr? Dein Edelmut und deine Tugendhaftigkeit haben sich bezahlt gemacht – schau dir nur die ganzen Leichen an, die deinen Weg pflastern.«
»Yul! Hör auf!«, brüllte Soo-Ja, die seine Worte nicht länger ertrug.
»Ich frage mich gerade, ob Min nicht von Anfang an recht hatte«, sagte Yul schnell. Er würde seine Worte sicher bereuen, konnte sich aber nicht beherrschen. »Vielleicht war ich ja in die Falsche verliebt, ohne es zu merken.«
»Das ist nicht fair«, erwiderte Soo-Ja.
»Es ist auch nicht fair, dass ich mich die vergangenen zehn Jahre nach einer Frau gesehnt habe, die nie vorhatte, mich zu erhören!«
»Das stimmt überhaupt nicht!«, rief Soo-Ja.
»Steig aus. Steig aus meinem Auto! Ich will dich nie mehr sehen.«
Soo-Ja wurde von diesen Worten regelrecht auf die Straße katapultiert. Mit ihrem Koffer ging sie auf den Terminal zu, dessen automatische Glastüren sich öffneten und sie willkommen zu heißen schienen. Aber Soo-Ja blieb stehen und ließ sich vom Regen durchnässen. Die Tropfen fielen ihr in die Ohren, in den Mund, in die Lücken zwischen ihren Fingern. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Scheibenwischer Yuls Gesicht in kleine Stücke zerschnitt. Das Auto löste sich vom Straßenrand und fuhr langsam an. Die Reifen rutschten über den nassen Asphalt und wirbelten das Wasser auf. In Sekundenschnelle war er fort.
Endlich konnte Soo-Ja den Schmerz herauslassen. Sie ging in die Knie, legte die Arme auf ihren Koffer und ließ den Schrei entweichen, der in ihrem Herzen eingesperrt gewesen war. Fremdartig und brüchig zugleich erfüllte er die Luft. Soo-Ja keuchte und spürte die Tropfen, die auf ihre Haut schlugen. Yul hatte recht gehabt. Sie hatte alles verloren, was zu verlieren gewesen war. Sie hatte gleich mehrere Menschen verloren. Aus einiger Entfernung betrachtete sie die Glastüren, die automatisch auf und zu glitten. Diese Türen führten in die Zukunft, nach Amerika.
So endet die Geschichte also , dachte Soo-Ja. Der Schwiegervater gewinnt, Yul verliert, Soo-Ja verliert. Sie hatte geglaubt, es wäre nichts mehr übrig, das man ihr hätte nehmen können, doch plötzlich stand sie da ohne Knochen und ohne Haut. Sie hatten ihr alles genommen – sogar die Luft zum Atmen.
18
In Seoul sagt man, wer einmal amerikanische Luft – migug baram – geatmet hat, will nie mehr zurück. Soo-Ja konnte jetzt nachvollziehen, warum Min und Hana sich – wie die Kinder im Märchen – vom reinen, süßen Aroma dieses Landes hatten verzaubern lassen. Auf der Taxifahrt vom Flughafen zum Haus ihrer Schwiegereltern in Palos Verdes, Kalifornien, ließ auch sie sich einlullen von den weiten Flächen, der himmlischen Stille und der disziplinierten Fahrweise der Amerikaner. Vielleicht lebt Gott nicht in Los Angeles, dachte sie, aber seinen Urlaub verbringt er sicher hier.
Aus dem Auto heraus staunte sie über die großen Abstände zwischen den einzelnen Gebäuden – so viel leerer Raum! Was für
Weitere Kostenlose Bücher