Was dein Herz nicht weiß
ein Luxus: große Parkplätze, breite Straßen, die bloße Existenz von Bürgersteigen. Das Taxi glitt so sanft dahin, dass sie glaubte, selbst stillzustehen, während die Häuser wie auf einer Leinwand an ihr vorbeizogen. Sie war zum ersten Mal im Ausland; die Ironie des Ganzen war ihr natürlich bewusst.
Am Ende habe ich also doch noch die Gelegenheit bekommen, mich in Diplomatie zu üben.
Als das Taxi die Wohngegend der Schwiegereltern erreichte, war Soo-Ja überrascht, wie groß die Häuser waren – eigentlich waren es Villen mit unendlich langen Auffahrten, auf denen auch ein Flugzeug hätte landen können. Das Haus der Schwiegereltern lag an einem Abhang und war von Sträuchern umgeben, sodass man eher an einen Park dachte als an ein Wohngebiet. In Korea lebten so nur die Superreichen. Hier jedoch war das ganz normal für die obere Mittelklasse, wie sie später erfuhr.
Soo-Ja schaute an sich hinab – sie trug ein einfaches dunkelgrünes Kleid mit weißem Blumendruck – und wünschte sich, sie hätte wenigstens ihre Perlenkette angelegt. Es war, als wären ihre Tochter und ihr Mann von einem reichen Ehepaar adoptiert worden, und dieses Ehepaar waren zufällig ihre Schwiegereltern.
Wie erwartet gestaltete sich das erste Wiedersehen mit Mins Eltern schwierig; immer wieder entstanden lange, vorwurfsvolle Phasen des Schweigens. Zum Glück war nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn schon bald fielen die Verwandten ins Haus ein. Die Schwiegermutter feierte an diesem Tag nämlich zufällig ihren sechzigsten Geburtstag, und Freunde und Verwandte standen Schlange, um zu gratulieren. Soo-Jas Schwägerin und ihr Schwager begrüßten sie überschwänglich, wie christliche Missionare, die zum ersten Mal vor den Eingeborenen standen, und bemerkten freudig, wie groß und hübsch Hana geworden sei. Keiner der Verwandten sprach an, warum Soo-Ja tatsächlich in Amerika war, aber an ihrem nervösen Lächeln konnte sie sehen, dass alle die Umstände, unter denen Min und Hana hergekommen waren, sehr wohl kannten.
Soo-Ja fand Hana draußen im Garten, wo sie gerade aus dem Swimmingpool stieg. Sie rannte auf sie zu, um ihre Tochter in die Arme zu schließen, doch als sie Hanas plötzlich so erwachsenen Körper in dem geliehenen Badeanzug sah, ahnte sie, dass sie den Kampf verloren hatte. Sie hielt die Tränen zurück und drückte ihre Tochter an sich. Dann folgte sie ihr zu einer frisch lackierten Hollywoodschaukel, auf der sie sich niederließen.
Hana war ganz wild darauf, Soo-Ja das Haus und den Garten zu zeigen. Sie behandelte ihre Mutter, als wäre sie zu spät zu einer Party gekommen, deren Freuden und Geheimnisse sie selbst bereits ausgekundschaftet hatte. Soo-Ja hatte ihren Einfluss auf Hana verloren; sie hatte sie an das helle Sonnenlicht, an den riesigen Garten mit seinen Wildblumen und an die Liegestühle verloren, auf denen man faul herumliegen und die Welt durch einen Strohhalm schlürfen konnte.
Kurz darauf kam Min zu ihnen heraus und stellte sich verlegen neben Soo-Ja. Wären sie Geschäftspartner gewesen, hätten sie sich jetzt die Hand gegeben. Wären sie ein junges Paar gewesen, hätten sie sich vielleicht geküsst. Wären sie Verwandte gewesen, hätten sie sich umarmt. Aber sie waren Mann und Frau und wussten nicht, wie sie einander begrüßen sollten. Dabei war Soo-Ja natürlich klar, dass sie beobachtet wurden. Drei Dutzend Menschen spazierten im Garten herum – Neffen und Nichten jeden Alters, die angeheirateten Frauen des Clans, Freunde aus der Kirchengemeinde – , aber sie alle bewegten sich mit der Unaufdringlichkeit von Hintergrundstatisten.
»Du hast mir doch immer gesagt, du hättest Angst vorm Fliegen. Ist diese Angst über Nacht verschwunden?«, fragte Soo-Ja Min leise.
»Hana, geh unter die Dusche und wasch dir das Chlor ab«, befahl Min.
Mit einem traurigen Blick gab Hana ihrer Mutter einen schnellen Kuss auf die Wange und verschwand. Min setzte sich auf ihren Platz neben Soo-Ja. Sie sprachen leise miteinander, während sie die Leute betrachteten, die auf der gegenüberliegenden Seite des Pools beim Grill standen.
»Vater bietet uns beiden Jobs in seinem Warendepot an. Er handelt mit Sportkleidung. Du könntest die Kunden bedienen, und ich würde im Lager arbeiten. Aber du müsstest Spanisch lernen, denn die meisten Kunden kommen aus Mexiko.«
»Er ist wohl schon ganz wild darauf, mich wieder herumzuscheuchen, was?« Soo-Ja schaute zum Haus, in dem der Schwiegervater vermutlich
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