Was dein Herz nicht weiß
»Er meinte, er hätte beobachtet, wie du die Fische aus dem Teich geholt hast. Es hätte so ausgesehen, als wären deine Hände fast erfroren.«
Soo-Ja legte sich eine Hand auf die Stirn und rieb sich die Schläfen. Also war der Bewerber doch nicht zu spät gekommen. Er hatte am Tor gestanden und sie die ganze Zeit über beobachtet. Sie fragte sich, warum er ihr nicht zu Hilfe gekommen war.
»Warum machst du solche Sachen? Damit die Leute dich bedauern?«, fragte Min.
»Ich wusste überhaupt nicht, dass er da war.«
»Er sagte, du hättest wohl ein schlechtes Los mit deinem Ehemann gezogen. Stimmt das, Soo-Ja? Hast du ein schlechtes Los gezogen?«, wollte Min von ihr wissen.
In seiner Stimme hörte Soo-Ja eine Art Verzweiflung, die sie ihm nie zugetraut hätte. Anscheinend wünschte er sich, sie würde entgegnen: Ja, so ist es, damit er weiter mit ihr kämpfen konnte, sie anschreien und anklagen, weil sie undankbar sei. In seinen Worten hörte Soo-Ja tiefe Schuldgefühle und Frust von der Größe eines Ozeans. Denn er kümmerte sich nicht um sie, wie es sich für einen Ehemann gehörte. Er wusste nicht, wie.
Soo-Ja war es zum Weinen zumute. Sie schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Ich habe ein gutes Leben, Min. Sorge dich nicht um mich.«
Am Anfang war es nicht so schlecht gewesen. In der ersten Woche ihrer Ehe prahlten Soo-Jas Schwiegereltern mit ihrer neuen Schwiegertochter. Sie liebten es, die anderen daran zu erinnern, dass ihr Vater eine der ersten modernen Schuhfabriken Koreas aufgebaut hatte. Die Schwiegermutter nahm Soo-Ja mit auf den Markt und stellte sie allen Ladeninhabern vor, bei denen sie einkaufte. Soo-Ja bemerkte bald, dass ihre Schwiegermutter schon zuvor von ihr erzählt hatte und sie an diesem Tag mitbrachte, weil man so oft nach ihr gefragt hatte.
Aber schon damals machte Mins Mutter ihrer Schwiegertochter das Leben schwer. Sie ließ Kommentare fallen wie: »Deine Hüften sind sehr schmal, das ist nicht gut, um Babys zur Welt zu bringen.« Oder sie lächelte höhnisch und sagte: »Deine Hände sind so weich. Hast du jemals in deinem Leben einen Finger krumm gemacht?« Wie vielen Frauen ihrer Generation war der Schwiegermutter eine hübsche Schwiegertochter nicht willkommen. Schönheit bedeutete Ärger, und Mütter, deren Söhne attraktive Frauen geheiratet hatten, verfluchten oft die Eheschließung. Die ideale Schwiegertochter war von unauffälligem Aussehen, hatte grobe Hände und breite Hüften.
Als Soo-Ja schwanger war, betete die Schwiegermutter jede Nacht vor einem kleinen Schrein, den sie im Hof aufgebaut hatte, um einen Enkelsohn. Sie hielt sich an all die überlieferten Vorschriften, von denen man glaubte, dass sie die Geburt eines Jungen begünstigten. Soo-Ja durfte nicht rennen, nicht lesen oder zu viele Stufen hinaufgehen. Die Schwiegermutter ließ keine Besucher an sie heran und duldete auch keine Gespräche über ernsthafte Themen. Sie verbot ihr, enge Kleider zu tragen, und hielt verdorbenes oder rohes Fleisch von ihr fern. Interessanterweise erstreckten sich die Einschränkungen aber nicht auf Soo-Jas häusliche Pflichten als Schwiegertochter. Noch immer musste sie die Böden schrubben – so sauber, dass man darauf sitzen, essen und schlafen konnte – , und sämtliche Kleider der Familie waschen, wovon ein großer Teil weiß war und täglich gereinigt werden musste. Diese Tätigkeiten, erklärte die Schwiegermutter, hätten keinerlei Einfluss auf das Geschlecht des Babys.
Als Hana geboren wurde, waren Soo-Jas Schwiegereltern tief enttäuscht. Die Schwiegermutter riss die Chilischoten herunter, die sie am Eingang des Hauses aufgehängt hatte, und baute den kleinen Schrein im Hof ab. Ein Mädchen war wie Gras: Man trampelte darauf herum. Von Min als dem Ältesten wurde erwartet, einen Sohn zu zeugen und so den Bestand der Familie zu sichern. In seinen Augen und in den Augen der Familie hatte Soo-Ja ihre Pflicht versäumt.
Von diesem Tag an begann ihre neue Familie, sie anders zu behandeln. Gelegentlich erinnerten die Verwandten sie jedoch daran, dass sie, sollte sie wieder schwanger werden und einen Sohn gebären, einen besseren Stand im Haus haben würde. Aber Soo-Ja konnte sich nicht überwinden, ein weiteres Kind mit Min zu bekommen. Eins war genug, beschloss sie. Ihrer Meinung nach mussten Kinder aus Liebe geboren werden und nicht aus der Notwendigkeit heraus. Außerdem hatte sie ja schon ihre Tochter, und obwohl niemand dem Mädchen
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