Was dein Herz nicht weiß
–, aber nein, der Weg war frei, und es gab nichts, was ihre Pläne durchkreuzt hätte.
Die Praxis roch nach Lauge und Reinigungsmitteln. Mitten im Raum stand ein Ofen und spendete angenehme Wärme; die wenigen wartenden Patienten scharten sich um ihn, trugen aber noch immer ihre schweren Mäntel und Jacken. Soo-Ja setzte sich auf einen der kleinen metallenen Klappstühle. Sie fragte sich, ob die anderen Wartenden ihr ansehen konnten, warum sie hier war, und hoffte, dass sie sie für eine Kranke hielten.
Wenig später sah Soo-Ja eine Krankenschwester aus dem Sprechzimmer kommen. Sie trug keine Schwesternuniform, sondern einen roten Anorak und einen Mundschutz. Soo-Ja winkte ihr und fragte, ob sie noch lange auf den Doktor warten müsse.
»Nein«, antwortete sie. »Es sieht aus, als bekämen wir einen schweren Schneesturm. Sogar die Kranken bleiben zu Hause. Sie sagten, Sie müssten etwas mit dem Arzt besprechen? Sobald der Patient herauskommt, können Sie zu ihm.«
In diesem Augenblick wurde die Tür zum Sprechzimmer geöffnet und Wortfetzen eines Gespräches erfüllten die Luft. Soo-Ja sah die Schwester an, die fröhlich nickte. Ja, das ist der Doktor . Mit klopfendem Herzen und in der Erwartung, Yul zu sehen, drehte Soo-Ja sich um. Aber stattdessen stand dort ein viel älterer und kleinerer Mann mit einer starken Brille und einem langen, weißen Arztkittel.
»Entschuldigen Sie, Schwester«, sagte Soo-Ja. »Aber das ist nicht Doktor Yul-Bok Kim.«
»Ach, Doktor Kim ist heute nicht in der Praxis«, entgegnete die Schwester ein wenig zu laut. »Er und seine Frau machen Ferien in den Bergen. Sie fahren Ski. Wissen Sie, was Skifahren ist?«
»Skifahren?«, wiederholte Soo-Ja schwach.
Die Worte der Schwester hallten wie ein Echo in ihrem Kopf wider: Er und seine Frau … Also war Yul verheiratet. Warum hatte sie diese Möglichkeit eigentlich nie bedacht?
»Morgen ist er wieder zurück. Sind Sie eine Patientin von ihm? Wie ist Ihr Name?«
Soo-Ja blickte sie an und geriet in Panik. Ihr wurde schlecht.
Wie dumm bin ich doch gewesen! Was habe ich mir denn davon versprochen, hierherzukommen? Dass Yul mich aus meiner Ehe retten würde? Er würde mich wahrscheinlich für verrückt halten, weil ich hergekommen bin .
»Schon gut. Ich … ich werde morgen noch einmal wiederkommen«, erklärte Soo-Ja, obwohl sie wusste, dass sie dann schon wieder in Daegu sein würde.
»Wo bist du gewesen?«, fragte die Schwiegermutter, sobald ihre Schwiegertochter den Hof betrat. Hinter ihr konnte Soo-Ja die Sonne untergehen sehen.
Soo-Ja sah sie verwirrt an. Die Stimme der Schwiegermutter klang kreischend, fast hysterisch. Einen Augenblick lang hatte Soo-Ja das seltsame Gefühl, als wollte die Schwiegermutter ihr den Weg versperren und sie nicht zu Hana lassen.
»Ich habe bloß ein paar Besorgungen gemacht. Hat Na-yeong dir das nicht ausgerichtet?«, antwortete Soo-Ja und versuchte, an der Schwiegermutter vorbeizugehen.
»Dein Kind mit einem anderen Kind allein zu lassen. Was hast du dir dabei gedacht?«
Jetzt war die Panik in der Stimme der Schwiegermutter nicht mehr zu überhören.
Soo-Ja schluckte. Plötzlich fühlte sie etwas Hartes in ihrer Brust.
»Na-yeong ist wohl kaum ein Kind. Wo ist sie? Wo ist Hana?«
Die Schwiegermutter antwortete nicht, sondern schaute Soo-Ja nur mitleidig und angsterfüllt an. Der harte Klumpen in Soo-Jas Brust schien jetzt drastisch zu wachsen und begann zu pulsieren.
»Wo ist Hana? Sag mir, wo ist Hana?« Soo-Ja ging an ihr vorbei ins Haus. Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer, wo sie den Schwiegervater und die Jungen vorfand. Als diese bei ihrem Eintreten aufblickten, konnte sie den Ernst in ihren Augen erkennen. Dann sah sie etwas, das ihr das Blut gefrieren ließ: Hinten im Zimmer, als wollte sie sich verstecken, saß Na-yeong und aß allein aus einer Reisschüssel, ohne Hana. Soo-Ja versuchte, die anschwellende Panik unter Kontrolle zu halten, und ging langsam auf sie zu.
»Wo ist Hana?«, fragte sie und hörte die Panik in ihrer eigenen Stimme.
Na-yeong gab keine Antwort, sondern hielt sich stattdessen die Essstäbchen vors Gesicht.
Soo-Ja bemerkte nicht, dass die Schwiegermutter hinter sie getreten war.
»Na-yeong, geh ins Zimmer deines Onkels und warte dort.«
»Nein, bleib hier«, rief Soo-Ja. »Sag’s mir. Wo ist Hana? « Jetzt wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen war.
»Ich weiß es nicht!«, sprudelte es aus Na-yeong heraus. »Ich habe sie verloren!«
»Was soll
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