Was dein Herz nicht weiß
Erde gruben. Überall standen Gerüste und Rohbauten. Tausende Fabriken und Unternehmen siedelten sich um die Stadt herum an und produzierten Waren, die in die reichen Länder exportiert wurden. Statt Rikschas fuhren jetzt Kias durch die Straßen, und Züge ersetzten die Straßenbahnen. Präsident Chung Hee Park hatte gerade riesige Summen Geld von den Amerikanern geborgt und benutzte es, um Industrieanlagen zu errichten, Werften zu modernisieren und Autobahnen zu bauen. Soo-Ja hatte nicht erwartet, dass sich ihr Land im Verlauf von nur einem Jahrzehnt so stark wandeln würde.
Aber wie sie schnell begriff, brachte die Erneuerung auch eine Menge an Arbeit und Opferbereitschaft mit sich. Jedermann um sie herum schien sechzig Stunden die Woche zu arbeiten, angefangen vom Fabrikarbeiter bis hin zum Schuhputzer. Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse – auch Hana – mussten früh am Morgen aufstehen, sich selbst Frühstück machen und den ganzen Tag mit Auswendiglernen und mathematischen Aufgaben verbringen. Niemand sprach von Glück oder davon, den Tag zu genießen. Die Menschen waren von jeher dazu erzogen worden, Opfer zu bringen, entweder für ihre Eltern oder für ihre Kinder, und jetzt wurden sie aufgefordert, diese Gefühle auf ihre Vorgesetzten oder ihre Arbeitsplätze zu übertragen. So schufteten sie also und erlebten bald, wie die Gebäude in den Himmel wuchsen und das Geld zu fließen begann.
Präsident Park regierte wie ein Diktator, das wusste jeder. Mithilfe der neuen Verfassung – die er selbst entworfen hatte – verhinderte er jeden Versuch, ihn aus dem Amt zu entfernen (oder ihn vom Thron zu stoßen, wie manche es formulierten). Aber es gelang ihm, den allgemeinen Lebensstandard zu heben, und seine gelegentlichen populistischen Aktionen – die Jagd auf korrupte Geschäftsleute oder das Asphaltieren der Strohdächer auf dem Land – sicherten ihm die Zuneigung der Armen. Park war gewissermaßen Vater und Mutter der Landbevölkerung geworden. Er hatte ihr den Kapitalismus als neue Religion geschenkt.
Soo-Ja arbeitete normalerweise Zwölfstundentage im Hotel, fand daran aber nichts Außergewöhnliches, da alle anderen ähnliche Arbeitszeiten hatten. Es war ehrenhaft, produktiv zu sein, und Kapital zu erzeugen war jedermanns Pflicht. Die Philosophie des Konfuzius hatte sie gelehrt, pflichtbewusst zu sein, und der Kapitalismus gab ihnen etwas, auf das sie ihr Pflichtbewusstsein richten konnten: die Gesetze des wirtschaftlichen Wohlstandes. Es spielte keine Rolle, was sich hinter geschlossenen Türen abspielte, in den Schlafzimmern, im Privatbereich – welche Tränen vergossen, welche Wünsche unterdrückt wurden. Gefühle, Emotionen, Hoffnungen – all das musste hintangestellt werden, denn das Individuum zählte nicht, nur der kollektive Wille, erfolgreich zu sein.
Und Soo-Ja war entschlossen, ein Teil dieses Erfolges zu werden. Sie verwarf die Redewendung »Meoggo-salja« – »essen und leben« reichte ihr nicht. Sie wollte, dass ihre Familie in einem der eindrucksvollen Häuser residierte, wie sie gerade in Seoul für die Söhne und Töchter der neureichen Hersteller von Elektronikartikeln gebaut wurden. Sie wollte für ihre Tochter Kleider in den eleganten Ateliers und Boutiquen kaufen, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen und Mode im Pariser Stil verkauften. Aber vor allem wollte sie ihrem Vater sein Geld zurückzahlen. In ihrer Fantasie fand Soo-Ja einen Weg, ihren Schwiegervater dazu zu bringen, das Geld zurückzugeben. Aber sie wusste, dass das nicht sehr realistisch war und dass sie das Geld selber verdienen musste, wenn sie es ihrem Vater zurückzahlen wollte. Das Land in Gangnam war der Schlüssel dazu.
Seit sie nach Seoul gezogen waren, hatten Soo-Ja und Min davon gelebt, ein Hotel zu leiten. Wie in den meisten kleineren Unternehmen üblich, wohnte Soo-Ja mit ihrer Familie auch dort, in zwei kleinen Zimmern in der Nähe des Eingangs. Diese Arbeit, mitsamt den anspruchsvollen Kunden und langen Arbeitsstunden, war nicht sehr gut bezahlt. Soo-Ja wusste, dass darin keine Zukunft lag. Was sie noch weniger daran mochte, war die Tatsache, dass die Idee dazu von einem Freund ihres Schwiegervaters stammte, und sie hasste es, deswegen in seiner Schuld zu stehen.
Soo-Ja verachtete auch die Männer, die nachts auftauchten, ohne Vorbestellung, und ein Zimmer brauchten, um ihren Rausch auszuschlafen, oder ein Mädchen dabeihatten, oder beides zusammen. Oft verlangten sie auch
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