Was dein Herz nicht weiß
von ihr, ihnen ein Mädchen aufs Zimmer zu schicken. Zuerst ignorierte Soo-Ja die Aufforderungen. Aber dann kamen die Frauen von selbst und fragten, ob einsame Männer im Hotel wären. Sie trugen keine Fuchsmäntel oder Miniröcke. Sie fluchten nicht und grinsten auch nicht anzüglich. Sie sahen aus wie gewöhnliche Frauen, einige hatten sogar ihre Kinder dabei. Sie waren hungrig und blickten sie aus müden Augen an. Da sagte Soo-Ja ihnen, an welche Türen sie klopfen sollten, und manchmal warnte sie sie vor einem besonders unangenehmen Gast.
Wenn Soo-Ja im Radio den Präsidenten hörte, wie er über seinen Fünfjahresplan sprach, der die Wirtschaft modernisieren sollte, und über sein hochfliegendes Ziel, ein, wie er es nannte, »rückständiges« Land in eine große Supermacht zu verwandeln, dachte Soo-Ja an diese Frauen.
Sie fragte sich, was sie wohl für eine Rolle in diesem neuen Land spielen würden – als von ihren Männern verlassene oder von ihren Familien verstoßene Frauen. Sie erinnerten sie an die Scharonrose, die Nationalblume von Korea: Weiß, mit purpurnen Kelchöffnungen und winterharten Kronblättern, hatte man sie auserwählt wegen ihrer Fähigkeit, Trockenheit, Hitze und schlechten Boden zu ertragen. Ihre Blüte war prächtig, doch sie erforderte Geduld, da sie erst spät im Frühjahr zum Vorschein kam. Einmal erblüht zeigte sie jedoch den ganzen Sommer über ihre Schönheit und überdauerte alle anderen Blumen.
Als sie von ihrem Besuch in Gangnam zum Hotel zurückkehrten, vergaß Soo-Ja ihre üblichen Sorgen. Obwohl das Geld noch nicht reichte, spürte sie ein aufgeregtes Prickeln – sie fühlte sich wie ein Kind am Beginn der Sommerferien, mit einer Zukunft, die sich warm und verheißungsvoll in der Ferne abzeichnete. Es war Hana, die sie aus ihrer Träumerei riss, indem sie ihr ein Briefchen überreichte. Soo-Ja war noch dabei, Mantel und Schal abzunehmen, als ihre Tochter das zusammengefaltete Papier auf den Tresen legte. Min war schon in ihr Zimmer gegangen, um sein tägliches Nachmittagsnickerchen abzuhalten.
»Was ist das?«, fragte Soo-Ja.
Sie standen an der Rezeption, wo Soo-Ja sich meistens aufhielt und die Kunden begrüßte. Es war ein bescheidener Empfangsbereich: ein weißer Holztresen, einige abgenutzte Eichenstühle und ein Glastisch mit veralteten Zeitschriften. In der hinteren Ecke bedeckten einige Bambuspflanzen die Rückwand, und eine Anschlagtafel wies auf Vergünstigungen für Sehenswürdigkeiten und nahe gelegene Restaurants hin. Ansonsten war nicht viel Platz. Wenn die Gäste durch die Eingangstür traten, standen sie schon fast unmittelbar vor Soo-Ja.
»Dieser Mann hat es mir zugesteckt, als wir gerade gehen wollten. Er hat mir aufgetragen, es dir zu geben, wenn wir alleine sind«, erklärte Hana.
»Meinst du Gi-yong Im? Den Mann, mit dem wir uns gerade getroffen haben?« Soo-Ja griff nach dem Zettel und öffnete ihn gespannt.
Ich würde Ihnen einen Preisnachlass geben, wenn Sie sich auf ein Rendezvous mit mir treffen. Sie sind sehr hübsch, und Ihr Mann braucht ja nicht alles zu wissen.
Soo-Ja unterdrückte einen Fluch. Sie war erstaunt, dass er glaubte, sie würde einem solchen Vorschlag zustimmen. Innerlich brodelte sie. Sie ärgerte sich, dass sie ihn nicht anrufen und ihm den Kopf waschen konnte, denn sie brauchte ihn mehr als er sie. Stattdessen versuchte sie, die Demütigung herunterzuschlucken und knüllte das Papier zu einer kleinen Kugel, die sie dann in die Tasche steckte, damit das Zimmermädchen sie nicht im Abfallkorb finden oder, Gott bewahre, Min selbst darüber stolpern würde.
»Hana, du hast den Brief nicht geöffnet, oder?«, fragte Soo-Ja ihre Tochter, wobei sie versuchte, die Frage beiläufig klingen zu lassen.
»Nein«, antwortete Hana. »Warum?«
»Darum. Und jetzt hilf deiner Mutter und sag Fräulein Hong, dass sie sich noch einmal kurz Zimmer 312 vornehmen soll. Die Frau, die es telefonisch gebucht hat, scheint besonders anspruchsvoll zu sein und wird ein schmutziges Zimmer nicht sehr schätzen.«
»Ja, ich weiß, ich habe mit ihr gesprochen«, sagte Hana. »Sie hat heute Morgen noch einmal angerufen. Sie konnte nicht glauben, dass wir keine Duschen im Hotel haben. Was meint sie denn, wofür das Badehaus auf der anderen Straßenseite gut ist? Und dann hat sie gefragt, ob sie umsonst ein weiteres Zimmer für ihre Kleider haben könnte. Na klar, aber verdienen diese Kleider ihr eigenes Geld und bezahlen für ihr Extrazimmer? Es gibt
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