Was dein Herz nicht weiß
war in letzter Zeit ein wenig ruhiger geworden und hatte für die Schule so viel zu tun, dass sie ihrer Mutter keine großen Schwierigkeiten mehr machte. Gelegentlich ertappte Hana Soo-Ja dabei, wie sie sie anstarrte, und fragte: »Was guckst du denn so?« Und Soo-Ja lächelte dann geheimnisvoll und antwortete: »Ich schaue dich einfach nur an . « Soo-Ja war noch immer verzaubert von dieser hübschen Tochter, die ihr gleich doppelt geschenkt worden war – zum ersten Mal bei der Geburt, zum zweiten Mal in Pusan – und überschüttete sie daher auch mit der doppelten Menge an Liebe.
Hana, weißt du, dass ich dich liebe? Ich beneide die Mütter in den amerikanischen Filmen, die das einfach so sagen können.
Ich weiß, dass ich es nicht laut aussprechen kann, aber ich sage es unhörbar, wenn ich dich auffordere, deine Jacke oder deine Kapuze anzuziehen. Ich kann es nicht laut aussprechen, aber ich sage es unhörbar, wenn ich dir zum Geburtstag Seetangsuppe mache und dir dazu auch Kokosnusskuchen besorge, deine Lieblingsspeisen. Dein Vater und ich stehen im Wettstreit um deine Liebe, aber das geben wir nicht offen zu; wir erinnern dich bloß daran, respektvoll und gehorsam zu sein. Sei gehorsam, meine Tochter. Sei gehorsam.
»Hatten Sie einen schönen Aufenthalt?«, fragte Soo-Ja und lächelte den beiden Gästen zu, die vor ihr standen. Die beiden Frauen waren ungefähr in ihrem Alter. Sie antworteten nicht – so als wäre Soo-Ja eine Art Maschine, die einfach nur dazu diente, die Formalitäten bei der Abreise durchzuführen. Anhand ihrer guten Kleidung vermutete Soo-Ja, dass es sich um verheiratete Damen handelte, die ein paar Tage ohne ihre Kinder und Ehemänner genossen. Während sie die Rechnung erstellte, bemerkte sie, dass die beiden sie intensiv anstarrten und miteinander flüsterten. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete eine der Frauen. »Meine Freundin meint, sie kennt Sie von früher, aber ich denke, da irrt sie sich.«
»Ach«, erwiderte Soo-Ja, blickte die beiden neugierig an und versuchte, ihre Gesichter einzuordnen.
Die eine Frau war hochgewachsen und hatte dauergewelltes Haar, das sich an ihren Wangen herunterringelte. Die andere war klein und sah aus wie sechzehn, obwohl sie offenbar doppelt so alt war. Soo-Ja kannte keine von beiden, schloss aber nicht aus, dass die Frau recht hatte. Besonders während der Collegezeit hatten viele Leute sie gekannt – mit Namen oder nur vom Sehen her.
»Meine Freundin glaubt, dass Sie Soo-Ja Choi sind, aus Won-dae-don.« Soo-Ja lächelte und wollte es gerade bestätigen, kam aber nicht zu Wort, weil die Frau unverdrossen weiterredete: »Aber ich behaupte, dass sie falsch liegt. Diese Soo-Ja war reich. Was sollte sie als kleine Angestellte in einem Hotel verloren haben?«
»Ich bin keine kleine Angestellte«, entgegnete Soo-Ja, und ihr Lächeln verschwand augenblicklich. »Sie ist es!«, unterbrach die andere Frau. Sie beugte sich vor und inspizierte Soo-Jas Gesichtszüge. Dabei redete sie, als wäre Soo-Ja überhaupt nicht dabei. »Sie sieht ihr aber gar nicht mehr ähnlich. Sie ist lange nicht mehr so hübsch, und die Soo-Ja, an die ich mich erinnere, würde im Leben keine solchen Wühltischklamotten tragen. Aber sie ist es!«
»Du irrst dich, Bok-Hee. Glaubst du wirklich, dass Woon-Gyu Chois Tochter an einem Ort wie diesem arbeiten würde? Sie lebt jetzt wahrscheinlich in Frankreich und lässt gerade ihr Schloss neu einrichten.« Die Frauen taten, als könnte Soo-Ja sie nicht hören. Dabei starrten sie sie an und studierten ihre Kleidung, ihre Haltung, ihr Aussehen.
»Das ist sie! Ich weiß genau, das ist sie!«, rief Bok-Hee. »Du bist es, nicht wahr?«, wandte sich Bok-Hee schließlich an Soo-Ja. »Du bist Soo-Ja Choi.«
Bok-Hee triefte vor Selbstzufriedenheit und schaute auf Soo-Ja, als hätte sie ihr die Maske vom Gesicht gerissen. Sie lächelte breit und dachte offensichtlich, sie wäre die Gewinnerin im Spiel des Lebens. Und sie konnte es wohl kaum erwarten, ihre alten Klassenkameradinnen von der Entdeckung zu unterrichten. Soo-Ja wich ihrem Blick aus und legte ihnen die Rechnung vor.
»Ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden«, sagte sie kurz angebunden. »Das bin ich nicht.«
»Natürlich nicht«, entgegnete Bok-Hee mit einem Lächeln, das bereits auf ihr Vergnügen hindeutete, wenn sie die Neuigkeit verbreiten würde.
Du wirst niemals erraten, wen ich gerade hinter dem Empfangstresen eines Ein-Sterne-Hotels gesehen habe …
Nachdem
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