Was dein Herz nicht weiß
Spiegel sehen. Er hatte seine Krankenhauskleidung und sein Unterhemd ausgezogen, und sie entdeckte einige Narben auf seiner Haut. Obwohl er nicht mehr so muskulös war wie in jüngeren Jahren, hatte er noch immer einen wohlgeformten Oberkörper und starke Arme. Dabei schien er eine gewisse Müdigkeit auszustrahlen, die ein Gefühl der Wärme in Soo-Ja auslöste.
»Ich hatte mich schon gefragt, wo deine Wut herkam.« In dem Moment wurde ihr klar, dass er sie auch sehen konnte. Dort im Spiegel waren sie sich ganz nahe; er in seiner Ecke, sie in ihrer, und doch nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Sie sah zu, wie Yul in den Erste-Hilfe-Koffer griff und einen Wattebausch hervorzog, auf den er etwas Alkohol träufelte. Dann begann er, seine Wunden zu säubern. Geschickt riss er sich Gazestreifen und Pflaster zurecht und arbeitete so routiniert, als würde er sich für den Tag anziehen. Bald waren seine Fingerknöchel mit weißen Pflastern bedeckt.
»Soo-Ja, du solltest diese Arbeit nicht tun müssen«, sagte Yul.
»Ich verdiene nicht schlecht. Der Hoteleigentümer bezahlt mich über Tarif.«
»Warum ist dein Mann nicht hier? Mit Betrunkenen können Männer besser fertigwerden.«
»Min eignet sich nicht für die Arbeit an der Rezeption. Es ist ihm unangenehm, Geld von den Leuten zu nehmen.«
»Soo-Ja, ich meine es ernst. Wie kann er dich hier nur arbeiten lassen? Und wo ist er überhaupt? Warum ist er nicht da?«
»Es ist ja nicht immer so schlimm.« Soo-Ja gab sich Mühe, überzeugend zu klingen.
»Du kannst immer noch auf die Diplomatenschule gehen. Min könnte deine Arbeit hier übernehmen. Du musst zur Abwechslung mal an dich selbst denken.«
»Yul, das alles ist zehn Jahre her. Heute kann ich Thailand nicht mehr von Timbuktu unterscheiden. Und außerdem gefällt es mir, wenn die Menschen um mich herum koreanisch reden statt Suaheli.«
»Es ist noch nicht zu spät. Viele Leute fangen erst mit dreißig in einem Job an.«
»Ja, das kommt noch dazu. Weibliche Diplomaten sind jetzt nichts Außergewöhnliches mehr. Wenn ich nicht mehr die erste koreanische Diplomatin sein kann, möchte ich lieber die Erste in einem anderen Bereich sein. Darum nehme ich jetzt Astronautenunterricht«, lächelte Soo-Ja.
»Du willst zum Mond fliegen?«, antwortete Yul, ebenfalls lächelnd.
»Nein, aber manchmal möchte ich Min auf den Mond schießen«, sagte sie mit ernstem Gesicht.
Yul lächelte wieder. »Versprich mir, dir etwas anderes zu suchen. Irgendwas. Versprich mir, im Hotel aufzuhören.«
»Das kann ich nicht.«
»Hier kannst du nicht arbeiten.«
»Bitte sag nichts zu Min, wenn du ihn triffst«, bat sie.
»Ich sollte ihm meine Frau vorstellen. Vielleicht mögen sie sich ja und brennen zusammen durch.«
Soo-Ja konnte nicht sagen, ob er scherzte oder nicht. »Sag doch nicht so was. Das ist unfair ihnen gegenüber.«
»Du hast meine Frau ja kennengelernt. Findest du, wir passen gut zusammen?«
»Warum hast du sie denn dann geheiratet?«
»Ich wurde schließlich auch nicht jünger«, bemerkte Yul und warf die überflüssigen Gazestücke weg. »Und bei den Patienten kommt es nicht gut an, wenn der Arzt ein Junggeselle ist, schon gar nicht, wenn sie ihre Kinder mitbringen.«
»Mir ist aufgefallen, dass du noch immer keine Kinder hast.«
Yul legte die Gaze, den Alkohol und die Schere wieder zurück in den Koffer. »Eun-Mee will keine. Sie meint, Kinder und vor allem Babys wären egoistisch und böse.«
»Sie sind aber auch liebenswert und sehr umgänglich«, lächelte Soo-Ja.
»Erinnert sich Hana noch an mich?« Yul schloss den Erste-Hilfe-Koffer und stellte ihn auf den Boden. Dann nahm er sich ein frisches Hemd und streifte es schnell über. Sie konnte den Luftzug hören, als er seine Arme in die Hemdenärmel gleiten ließ.
»Ich habe ihr die Geschichte viele Male erzählt, aber deine Rolle habe ich jedes Mal ausgelassen«, sagte Soo-Ja. »Den wichtigsten Teil also.«
»Nun, wenn ich meine Lebensgeschichte erzählen müsste, ohne dich zu erwähnen, würde auch die Hälfte fehlen.«
Yul drehte sich um und blieb im Türrahmen stehen. Jetzt schaute er Soo-Ja zum ersten Mal direkt an. Seine Augen waren so schön, wie sie sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie verlor sich beinahe in ihnen, stürzte sich in das warme Hellbraun, fühlte sich geborgen im Rund seiner Iris.
»Wie kannst du ein normales Leben führen bei allem, was du weißt?«, fragte er so leise, dass sie sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen.
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