Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
der Natur von ihren Erinnerungen ab, die jedoch gleich darauf wieder zurückkamen. Ihre Mutter, Sofía und Fredo am Bahnhof von Córdoba – das war das letzte einer ganzen Sequenz von Bildern. Antonina hatte geweint und ihren Tränen freien Lauf gelassen, die sie in den letzten Tagen zurückgehalten hatte. Trotz ihres Kummers hatte sie ihrer Tochter ans Herz legen wollen, sich nicht zu erkälten, sich vernünftig zu ernähren und gut auf sich aufzupassen. Aber ihre Stimme hatte versagt. Fredo hatte den Arm um sie gelegt, und Antonina hatte sich an seine Brust gelehnt. Sofía dagegen war ganz ruhig geblieben, bis der Pfiff des Stationsvorstehers die Abfahrt des Zugs nach Buenos Aires ankündigte.
Sie musste vergessen, sagte Francesca zu sich selbst und wandte sich wieder der Schweizer Landschaft zu. In Genf irrte sie durch den Bahnhof, bis sie in all dem Lärm ihren Namen hörte. Sie entdeckte in der Menge eine kleine, rundliche, etwa fünfunddreißigjährige Frau, die ein Schild über ihrem Kopf schwenkte und immer wieder rief: »Francesca de Gecco! Francesca de Gecco!«, während ihre Augen hin und her tanzten. Behindert von ihrem vielen Gepäck, ging Francesca auf sie zu.
»Francesca de Gecco?«, fragte die Frau ein bisschen kurzatmig.
»Ja, die bin ich. Sehr erfreut.«
»Ach, Schätzchen, kann man das glauben, dass der Konsul ausgerechnet mich mit meinen knapp ein Meter sechzig schickt, um dich abzuholen! Diese verrückte Menge hätte mich beinahe erdrückt, und du hättest mich nie gefunden. … Kann ich französisch mit dir sprechen? Ich lebe schon so lange hier, dass es mir leichter fällt. Ja? Das ist wunderbar. Ach, ja …« Sie legte die Hand ans Kinn und musterte Francesca von Kopf bis Fuß, nicht unverschämt, aber ausführlich. »Mein Name ist Marina Sanguinetti«, sagte sie dann und reichte ihr die Hand.
Das Gespräch auf dem Bahnsteig endete abrupt, als ein Mann die kleine Marina beinahe mit seiner Tasche umrannte. Nach einigen Flüchen auf Französisch schlug Marina vor zu gehen. Vor dem Ausgang des Bahnhofs nahmen sie ein Taxi. Francesca, die sich ziemlich verloren vorkam, beneidete die Selbstverständlichkeit, mit der Marina den Taxifahrer anwies, wohin er fahren sollte. Nicht mal in hundert Jahren würde sie sich in diesem Labyrinth zurechtfinden, dachte sie, als sie durch die Altstadt mit ihren engen Gässchen und alten Gebäuden fuhren.
»Du wirst erst mal bei mir wohnen«, erklärte Marina, »bis du eine Wohnung findest, die dir zusagt und die sich mit dem Budget vom Konsulat bezahlen lässt. Glaub mir, das ist nicht so einfach.«
Marina war für Personalfragen zuständig. Sie kannte den Lebenslauf, das Gehalt und die Tätigkeit jedes einzelnen Botschaftsangestellten. Sie hatte auch Zugang zu vertraulichen Informationen, die sie Francesca mit der Zeit und zunehmendem Vertrauen mitteilte.
Marinas Wohnung war groß und mit Antiquitäten eingerichtet, verriet aber auch eine Menge über die lebensfrohe Art ihrer Besitzerin: viele Pflanzen, moderne Bilder, Fotografien und das eine oder andere farbige Tuch über den Lampen schufen eine gemütliche Atmosphäre ohne Protz und Luxus.
»Ich bin froh, dass du im Konsulat anfängst«, eröffnete ihr Marina, bevor sie die Tür zum Schlafzimmer schloss. »Wir sind nur wenige Frauen, und wenn ich ehrlich sein soll, verstehe ich mich mit keiner von ihnen besonders gut. Aber ich weiß, dass du und ich gute Freundinnen werden können. Jetzt ruh dich erst einmal aus. Morgen stelle ich dich deinem Chef vor.«
***
Francesca lebte sich schnell in Genf ein und kam gut mit ihrer neuen Arbeit zurecht. Ihr Chef, ein Mittfünfziger mit traurigem Blick, der den gebrochenen Arm in einer Schlinge trug, trauerte noch seiner Sekretärin Anita hinterher. Er war ein freundlicher Mann mit besten Umgangsformen, aber schrecklich zerstreut. Er vergaß, wo er seine Brille hingelegt hatte, dabei trug er sie in der Regel an einem Band um den Hals. Er regte sich auf, man habe ihm seinen kostbaren Mont-Blanc-Füller gestohlen, bis Francesca ihn in irgendeiner Schublade fand. Sein Terminkalender war ein Mysterium, denn obwohl er ihn sorgfältig führte, verpasste er ständig Verabredungen oder kam zu spät zu den Sitzungen. Er hasste Buchhaltung, der Kassenabschluss stimmte nie, und normalerweise fand er weder Quittungen noch Belege. Immer wieder handelte er seinen eigenen Anweisungen zuwider, und wenn man ihn darauf hinwies, fragte er, welcher Idiot sich diese ausgedacht
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