Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
eigentlich erzählt«, plauderte Marina weiter, »dass ich eine Einladung für das Fest zum venezolanischen Unabhängigkeitstag habe?«
»Ach ja?«
»Wir werden einen Riesenspaß haben.«
»Da der Botschafter mich an dem Abend nicht braucht, hatte ich überlegt, gar nicht hinzugehen.«
»Du bist verrückt. Wir werden es uns gutgehen lassen. Die Venezolaner lassen es am 5. Juli richtig krachen.«
Als sie sich abends für das Fest fertigmachten, bemerkte Marina, dass Francesca mit ihren Gedanken woanders war. Während sie sich mechanisch schminkte, sagte sie kein Wort.
»Neben dir sehe ich aus wie eine Heuschrecke«, stellte Marina fest. Francesca lachte. »Na, immerhin ist es mir gelungen, dich für einen Moment vergessen zu lassen, was dich so traurig macht.«
Die venezolanische Botschaft, ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, war mit Fahnen und Girlanden geschmückt und erstrahlte im Glanz der Nationalfarben. Die Folkloremusik und der Partylärm waren bis auf die Straße zu hören. Als Francesca und Marina den Salon betraten, richtete der venezolanische Botschafter gerade einige Worte auf Englisch an die Gäste, unter denen in der ersten Reihe eine Gruppe von Arabern in weiten, weißen Gewändern und Turbanen auffiel.
»Araber?«, fragte Francesca leise.
»Die sind hier wegen der OPEC.«
»Der was?«
»Erklär ich dir später.«
Die kurze Ansprache des Botschafters wurde mit herzlichem Applaus bedacht. Jemand rief: »Hoch lebe die Heimat! Hoch lebe Venezuela!«, die Übrigen riefen »Hurra!« und »Bravo!«, und dann folgten Musik und Tanz. Die Kellner gingen mit Tabletts voller Häppchen oder Gläsern durch den Raum. Die Gäste aßen und tranken und unterhielten sich, in Grüppchen über den Saal verteilt. Andere tanzten lieber.
Marina genoss den Abend, aber ihre gute Laune schaffte es nicht, Francesca anzustecken. Sie bewunderte ihre Freundin. Nur zu gerne wäre sie so gewesen wie sie, immer fröhlich und optimistisch, immer ein Lächeln auf den Lippen, zufrieden mit ihrem Dasein als Alleinstehende und trotzdem voller Lebensfreude, ganz so, als ob ihr nichts fehlte. Irgendwann, sagte sich Francesca, war auch sie einmal so gewesen, hatte auch sie sich einmal so gefühlt.
Der argentinische Konsul begrüßte sie kurz, hielt dann aber Abstand. Seine Frau ließ ihn nicht aus den Augen und belauerte aufmerksam jede Geste und jedes Wort. Francesca und Marina unterhielten sich eine Zeitlang damit, das seltsame Paar zu beobachten.
»Warum hat man die Araber eingeladen?«, fragte Francesca schließlich noch einmal, während sie beobachtete, wie sie sich in ihren weißen Gewändern und den Kopfbedeckungen bewegten, unter denen ihre Gesichter kaum zu erkennen waren.
»Letztes Jahr«, erklärte Marina, »haben sich in Bagdad die wichtigsten erdölfördernden Länder getroffen, darunter Saudi-Arabien und Venezuela. Sie haben die Organisation erdölexportierender Länder, kurz OPEC, gegründet, deren Sitz hier in Genf ist.«
Gonzalo, ein Kollege aus dem Konsulat, der sie schon ein paar Mal zum Abendessen eingeladen hatte, bat Francesca um den nächsten Tanz. Ermuntert von Marina und den erwartungsvollen Augen des jungen Mannes, willigte sie ein.
***
Francesca begleitete den Konsul und seine Frau zu einem von der Genfer Kantonsregierung organisierten Mittagessen, weil sie bei Tisch, an dem hauptsächlich eine Delegation von Italienern saß, übersetzen sollte. Schon am Morgen hatte sich ihr Chef merkwürdig verhalten, ganz anders als sonst. Er bedankte sich nicht für den Kaffee und machte keine Bemerkungen über die Schlagzeilen von La Nación , die er täglich bekam, er beschwerte sich nicht über die vielen Akten, die sie ihm zur Unterschrift vorlegte, und scherzte nicht über dies und jenes, wie er es sonst immer tat. Zuerst wollte sie ihn fragen, ob es ihm nicht gutgehe, doch sie beschloss, nichts zu sagen.
Während des Essens brauchte Francesca nicht viel zu übersetzen: Einige der Italiener sprachen ganz ordentlich Spanisch, und der Konsul sagte ohnehin fast kein Wort. Auch seine Frau war schweigsam. Sie war verstimmt über die Anwesenheit der Sekretärin, die die Aufmerksamkeit eines eleganten Mailänders auf sich gezogen hatte. Nach dem Dessert, als der Kaffee serviert wurde, betraten mehrere Mitglieder der Genfer Regierung das Podium. Alle Gesichter wandten sich ihnen zu. Überzeugt, dass niemand auf ihn achtete, lehnte sich der Konsul auf seinem Stuhl zurück und wandte sich leise an seine
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