Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
er ein Baby. Sugar sah süß aus, doch sie hatte einen gemeinen, wilden Blick in den Augen.
    Carly setzte Sugar auf dem Teppich ab, und Sugar schwankte auf Cesar zu und beschnupperte seine Schuhe. Cesar legte eine Zeitung, eine Fernbedienung und eine Plastiktasse vor sie hin.
    Sugar schnappte nach der Zeitung. Cesar nahm sie ihr weg. Sugar schnappte erneut nach der Zeitung und sprang auf die Couch. Cesar nahm seine Hand und »biss« Sugar in die Schultern, fest und ruhig. »Meine Hand ist das Maul«, erklärte er. »Meine Finger sind die Zähne.« Sugar sprang vom Sofa. Mit einer flüssigen Bewegung drückte Cesar Sugar einen Moment lang fest zu Boden, dann ließ er locker und trat zurück. Sugar sprang nach der Fernbedienung. Cesar sah sie an und sagte einfach kurz »Schhhh«. Sugar zögerte. Dann stürzte sie sich auf die Plastiktasse. Cesar sagte erneut »Schhhh«. Sie ließ sie fallen. Cesar bat Lynda, eine Dose mit Hundekeksen zu bringen. Er stellte sie in die Mitte des Raumes und lehnte sich über sie. Sugar sah erst die Kekse an, dann Cesar. Sie schnüffelte, näherte sich vorsichtig, doch es war, als stünde zwischen ihr und den Keksen eine unsichtbare Wand. Sie umkreiste die Dose, doch sie traute sich nicht mehr als einen Meter heran. Sie sah aus, als wollte sie aufs Sofa springen. Cesar verlagerte sein Gewicht und versperrte ihr den Weg. Er ging einen Schritt auf sie zu. Sie wich mit gesenktem Kopf zurück, in die hinterste Ecke des Raumes. Dort kauerte sie und legte den Kopf auf den Boden. Cesar nahm die Kekse, die Fernbedienung, die Plastiktasse und die Zeitung und legte sie wenige Zentimeter vor ihrer Nase auf den Boden. Sugar, der einstige Schrecken von Mission Hills, schloss die Augen und ergab sich.
    »Sie hat keine Regeln, keine Grenzen«, erklärte Cesar schließlich. »Sie geben ihr Bewegung und Zuneigung. Aber Sie geben ihre keine Disziplin. Wenn wir jemanden lieben, geben wir alles. Das ist Liebe. Aber Sie lieben Ihren Hund nicht.« Er stand auf und sah sich um.
    »Machen wir einen Spaziergang.«
    Lynda stolperte in die Küche. Innerhalb von fünf Minuten war ihr Monster ein Engel geworden. »Unglaublich«, staunte sie.
2.
    Cesar Millans Zentrum für Hundepsychologie befindet sich in einer umgebauten Autowerkstatt in einem Industriegebiet im Stadtteil South-Central von Los Angeles. Es liegt am Ende einer langen, engen Gasse, die von einer geschäftigen Straße mit grauen Warenhäusern und Garagen abgeht. Hinter einem grünen Zaun liegt ein von Hunden bevölkerter Betonplatz. Einige dösen in der Sonne, andere planschen in einem Schwimmbecken, wieder andere liegen auf Picknicktischen herum. Cesar nimmt die Problemhunde anderer Leute bei sich auf, behält sie für mindestens zwei Wochen und integriert sie ins Rudel. Er bietet kein formelles Training. Was er weiß, hat er auf dem Bauernhof seines Großvaters im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa gelernt, wo er aufwuchs. Als Kind nannte man ihn Perrero, den »Hundejungen«. Er beobachtete Hunde so lange, bis er das Gefühl hatte, er könne sich in ihren Kopf versetzen. Jeden Morgen unternimmt er mit seinem Rudel einen vierstündigen Spaziergang durch die Berge von Santa Monica: Cesar vorneweg, die Hunde hinterher. Die Bullterrier, Rottweiler und Schäferhunde haben Rucksäcke umgeschnallt, und wenn die kleinen Hunde müde werden, lässt Cesar sie von den großen tragen. Wenn sie zurückkommen, werden sie gefüttert. Erst die Bewegung, dann das Fressen. Erst die Arbeit, dann die Belohnung.
    »Zur Zeit habe ich 47 Hunde hier«, berichtete Cesar. Er öffnete ein Gatter, und sie kamen angerannt, ein Knäuel von großen und kleinen Hunden. Cesar zeigte auf einen Bluthund. »Der hat Menschen angegriffen. Er war richtig aggressiv.« In einer Ecke des Hofs wurde gerade ein Wheatonterrier gebadet. »Sie ist seit sechs Monaten hier, weil sie keinem Menschen vertrauen kann«, erklärte Cesar. »Sie ist übel geschlagen worden.« Er kraulte einen Schäferhund. »Meine Freundin, Beauty. Wenn Sie das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Besitzerin sehen würden.« Er schüttelte den Kopf. »Krank. Beauty sieht sie und kratzt und beißt sie, und die Besitzerin sagt: ›Ich liebe dich auch.‹ Der hier hat einen anderen Hund totgebissen. Der da auch. Diese zwei kommen aus New Orleans. Sie haben Menschen angefallen. Der Pitbull da mit dem Tennisball hat in Beverly Hills einen Labrador totgebissen. Und schauen Sie sich den hier an - der hat nur ein Auge. Das andere hat

Weitere Kostenlose Bücher