Was der Hund sah
Campus der Universität von Notre Dame. Im Sommer 1964 verkündete Papst Paul VI., er werde ein Komitee einberufen, das die Position der Kirche in Fragen der Verhütung überprüfen sollte. Die Kirchenmänner trafen sich im Collegio San Jose in Rom, und es stellte sich bald heraus, dass die Mehrheit für eine Zulassung der Pille war. Berichte, die der Presse zugespielt wurden, schienen Rock zu bestätigen. Rock war hocherfreut. Newsweek setzte ihn aufs Cover und machte mit einem Artikel über den Papst auf. »Seit Kopernikus im 16. Jahrhundert erkannte, dass die Sonne der Mittelpunkt unseres Planetensystems ist, hat die Katholische Kirche keine ähnlich bedrohliche Konfrontation mit einem neuen Wissensgebiet erlebt«, schloss der Artikel. Paul VI. gab sich jedoch unbeeindruckt. Er zauderte und schob sein Urteil erst um Monate, dann um Jahre hinaus. Es heißt, er sei von konservativen Elementen im Vatikan beeinflusst worden. In der Zwischenzeit entdeckten Theologen Widersprüche in Rocks Argumentation. Die Kalendermethode »›verhindert‹ Schwangerschaft durch Abstinenz, also durch einen Nicht-Vollzug des ehelichen Akts während der fruchtbaren Phase«, erklärte ein Leitartikel der katholischen Zeitschrift America im Jahr 1964. »Die Pille verhindert die Zeugung dagegen, indem sie den Eisprung unterdrückt und so die fruchtbare Phase abschafft. Auch mit Hilfe von Wortspielen wird aus sexueller Enthaltsamkeit keine Unterdrückung des Eisprungs.« Am 29. Juli 1968 brach der Papst mit seiner Enzyklika »Humanae Vitae« sein Schweigen und erklärte, jede Form der »künstlichen« Schwangerschaftsverhütung sei nicht mit den Lehren der Kirche vereinbar.
Rückblickend lässt sich eine Chance erkennen, die Rock damals übersah. Hätte er schon damals gewusst, was wir heute wissen, und hätte er die Pille nicht als Verhütungsmittel, sondern als Medikament zur Krebsprävention deklariert - also ein Medikament, das Leben nicht verhinderte, sondern schützte -, dann hätte die Kirche möglicherweise ihren Segen erteilt. Hatte nicht bereits Pius XII. die Pille als therapeutische Maßnahme gestattet? Rock hätte die Pille nur so sehen müssen wie Pike: Als Medikament, dessen Verhütungsaspekt lediglich dafür sorgt, »dass Frauen Sachen einnehmen, die sie andernfalls nicht einnehmen würden«, so Pike.
Doch Rock lebte nicht lange genug, um zu verstehen, was er anders hätte machen können. Stattdessen musste er erleben, wie die Pille Ende der sechziger Jahre - fälschlicherweise - beschuldigt wurde, Blutgerinnsel, Schlaganfälle und Herzinfarkte zu verursachen. Zwischen Mitte der siebziger und Mitte der achtziger Jahre ging die Zahl der Frauen, die die Pille nahmen, um die Hälfte zurück. Die medizinische Fakultät von Harvard übernahm die Leitung von Rocks Klinik und drängte ihn hinaus. Harvard bezahlte ihm eine Pension von gerade mal 75 Dollar im Jahr. Er hatte kaum Geld auf dem Konto und musste sein Haus in Brookline verkaufen. Im Jahr 1971 verließ Rock Boston und zog sich auf einen Bauernhof in den Hügeln von New Hampshire zurück. Dort schwamm er regelmäßig im Fluss hinter dem Haus, hörte Märsche von John Philip Sousa und saß abends im Wohnzimmer und trank Martinis. In seinem letzten Interview, das er im Jahr 1983 gab, schien es, als seien die Erinnerungen an seine Leistungen derart schmerzhaft, dass er sie verdrängt hatte.
Als er gefragt wurde, welche die befriedigendste Zeit seines Lebens gewesen sei, antwortete der Erfinder der Pille: »Jetzt.« In gestärktem weißem Hemd und Schlips saß er am Feuer und las Der Schöpfung wunderbare Wege, Irving Stones fiktionale Lebensgeschichte von Charles Darwin. »Ich denke oft, was ich doch für ein Glück habe. Ich habe keine Verantwortungen und verfüge über alles, was ich brauche. Alle zwanzig Minuten nehme ich eine Prise Gleichmut. Ich lasse mich von nichts aus der Ruhe bringen.«
Früher war John Rock jeden Morgen um 7 Uhr in die Frühmesse gegangen und hatte ein Kruzifix über seinem Schreibtisch hängen gehabt. Die Journalistin Sara Davidson, die das Interview führte, rückte ihren Sessel näher heran und fragte ihn, ob er noch immer an ein Leben nach dem Tod glaube.
»Natürlich nicht«, erwiderte Rock barsch. Er verriet zwar nicht, warum, aber es war nicht schwer, den Grund zu erraten. Die Kirche war nicht in der Lage gewesen, die Anforderungen des Glaubens mit seinen Entdeckungen zu vereinbaren, und wenn die Kirche dies schon nicht konnte, wie sollte
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