Was der Hund sah
John Rock dazu in der Lage sein? Er hatte sich immer an sein Gewissen gehalten, und am Ende zwang ihn sein Gewissen, das aufzugeben, was er am meisten liebte. Das war nicht John Rocks Schuld, und auch nicht die der Kirche. Es war die Schuld der Willkür der Wissenschaft, die oft Fortschritte hervorbringt, ehe wir diese verstehen. Wäre die Reihenfolge bei der Entdeckung der Natürlichkeit eine andere gewesen, dann wäre unsere Welt heute eine andere.
»Himmel und Hölle, Rom, dieser ganze Kirchenkram - das ist doch bloß Trost für die Massen«, sagte Rock. Er sollte nur noch ein Jahr zu leben haben. »Ich war lange Zeit ein glühender und praktizierender Katholik, und ich habe das alles wirklich geglaubt.« {†}
13. März 2000
Was der Hund sah
Cesar Millan und das Geheimnis der Bewegung
1.
Im Fall Sugar gegen Forman kannte Cesar Millan keine Einzelheiten, als er am Tatort eintraf. Es war ihm lieber so. Er sollte zwischen Forman und Sugar vermitteln, und da Sugar ihre Position sehr viel weniger eloquent vertreten konnte, hätte ihn alles, was er vorab erfuhr, nur für die Opfer eingenommen.
Das Haus der Formans stand in einem Trailerpark in Mission Hills im Norden von Los Angeles. Dunkle Holzvertäfelungen, Ledersofas, dicke Teppiche. Die Klimaanlage war eingeschaltet, obwohl es einer dieser lächerlich paradiesischen südkalifornischen Tage war. Lynda Forman war Mitte sechzig und hatte einen einnehmenden Sinn für Humor. Ihr Mann Ray saß im Rollstuhl und erinnerte vage an einen Veteranen. Cesar Millan saß den beiden gegenüber in schwarzen Jeans, blauem Hemd und der ihm eigenen perfekten Haltung.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
»Unser Monster in einen süßen, liebenswerten Hund verwandeln«, antwortete Lydia.
Es war offensichtlich, dass sie lange darüber nachgedacht hatte, wie sie Sugar beschreiben sollte. »Sie ist 90 Prozent böse und 10 Prozent reine Liebe. Sie schläft nachts in unserem Bett. Sie kuschelt gern.« Sugar bedeutete Lynda sehr viel. »Aber sie schnappt nach allem, was sie bekommen kann, und versucht, es zu zerstören. Mein Mann ist behindert, und sie verwüstet sein Zimmer. Sie zerfetzt Kleider. Sie hat unseren Teppich zerrissen. Meine Enkel haben Angst vor ihr. Wenn ich die Tür aufmache, haut sie ab.« Lynda schob die Ärmel zurück und entblößte ihre Unterarme. Sie waren derart mit Bisswunden, Kratzern und Narben bedeckt, dass man hätte meinen können, sie sei gefoltert worden. »Aber ich liebe sie!«
Cesar sah sie an und zuckte zusammen. »Wow.«
Cesar ist kein sonderlich groß gewachsener Mann und hat die Statur eines Fußballers. Er ist Mitte dreißig, hat große Augen, olivfarbene Haut und weiße Zähne. Vor vierzehn Jahren schlich er sich von Mexiko aus über die Grenze in die Vereinigten Staaten. Er spricht ausgezeichnetes Englisch, nur wenn er aufgeregt ist, vergisst er manchmal die Artikel. Doch das passiert selten, denn Cesar ist kein Mensch, der sich so leicht aus der Ruhe bringen lässt. Er sah die Arme und sagte »wow«, doch seine Stimme blieb genauso ruhig wie bei der Frage »Was kann ich für Sie tun?«
Cesar stellte einige Fragen. Urinierte Sugar im Haus? Ja. Außerdem stürzte sie sich mit Vorliebe auf Zeitungen, Fernbedienungen und Plastiktassen. Cesar fragte nach Spaziergängen. Lief Sugar, oder spürte sie - und beim Wort spürte lieferte er eine täuschend echte Imitation eines schnüffelnden Hundes. Ja, Sugar spürte. Wurde sie bestraft?
»Ich stecke sie manchmal in eine Kiste«, sagte Lynda. »Aber nur für eine Viertelstunde. Dann legt sie sich hin, und alles ist wieder gut. Ich weiß nicht, wie ich bestrafen soll. Fragen Sie meine Kinder.« »Haben Ihre Eltern Sie bestraft?« »Das habe ich nicht gebraucht. Ich war ein Musterkind.« »Das heißt, Sie hatten keine Regeln. Schlagen Sie Sugar?« »Ich habe es versucht. Es fällt mir schwer.« »Was ist mit den Bissen?« »Ich kann es ihr ansehen. Sie schaut mich so an. «»Sie erinnert Sie daran, wer die Chefin ist.« »Dann leckt sie mich eine halbe Stunde lang, wo sie mich gebissen hat.« »Das tut sie nicht, um sich zu entschuldigen. Hunde lecken die anderen im Rudel, um ihre Wunden zu versorgen.«
Lynda blickte ein wenig verloren drein. »Ich habe gedacht, sie will sich entschuldigen.« »Wenn es ihr leid täte, dann hätte sie Sie erst gar nicht gebissen«, erwiderte Cesar leise.
Nun kam die Angeklagte an die Reihe. Lyndas Enkelin Carly kam herein und trug einen Beagle im Arm, als wäre
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