Was der Hund sah
die finanzielle Lage des Unternehmens informiert zu werden. Sie haben ein Recht auf Ehrlichkeit.
Doch der Staatsanwalt täuschte sich, denn Enron war kein Rätsel. Es war ein Geheimnis.
3.
Ende Juli 2000 erhielt Jonathan Weil, Reporter des Wall Street Journal in Dallas, einen Anruf von einem Bekannten aus einem Investmentunternehmen. Weil schrieb für die Regionalausgabe der Tageszeitung eine feste Kolumne mit dem Titel »Heard in Texas« und berichtete dort regelmäßig über die großen texanischen Energiekonzerne, darunter Dynegy, El Paso und Enron. Sein Anrufer machte ihm einen Vorschlag: »Er sagte: ›Schauen Sie sich doch mal an, woher die Gewinne von Enron und Dynegy stammen‹«, erinnerte sich Weil später. »Und das habe ich dann auch getan.«
Weil interessierte sich besonders für Enrons Neubewertungsprozesse, ein Instrument, das Konzerne zum Einsatz bringen, die komplexe Finanztransaktionen durchführen. Nehmen wir beispielsweise an, Sie sind ein Energieunternehmen und schließen einen Vertrag im Wert von 100 Millionen Dollar ab, in dem Sie sich verpflichten, dem Bundesstaat Kalifornien im Jahr 2016 eine Milliarde Kilowattstunden Strom zu liefern. Wie viel ist dieser Vertrag wert? Sie bekommen das Geld erst in zehn Jahren, und Sie wissen nicht, ob Sie dann einen Gewinn oder einen Verlust schreiben werden. Trotzdem spielen diese 100 Milliarden Dollar in Ihrer Bilanz natürlich eine Rolle. Wenn Elektrizität in den kommenden Jahren billiger wird, dann ist dieser Vertrag immens wertvoll. Wird sie jedoch zum Jahr 2016 hin immer teurer, könnten Sie zig Millionen Dollar Verlust machen. Mithilfe der Neubewertungsprozesse schätzen Sie den Gewinn ein und verbuchen ihn bei Vertragsunterzeichnung in Ihrer Bilanz. Sollte sich die Einschätzung im Laufe der Zeit ändern, korrigieren Sie die Bilanz einfach entsprechend.
Wenn ein Unternehmen mithilfe einer Neubewertung angibt, dass es aus einem Abschluss in Höhe von 100 Millionen Dollar einen Gewinn von 10 Millionen erwartet, dann kann das zweierlei bedeuten.
Das Unternehmen könnte tatsächlich schon 100 Millionen Dollar auf dem Konto haben, von denen nach Begleichung aller Verpflichtungen noch 10 Millionen übrig bleiben werden. Oder es könnte davon ausgehen, dass es mit einem Vertrag 10 Millionen Dollar erwirtschaftet, obwohl erst in einigen Jahren überhaupt Geld fließen wird. Weils Informant wollte, dass er überprüfte, welcher Anteil der vermeintlichen Gewinne Enrons »real« war.
Weil besorgte sich Kopien der Jahresbilanzen und der Quartalszahlen und verglich das bilanzierte Einkommen mit dem Cashflow. »Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um sie zu verstehen«, sagte Weil. »Es hat mich ungefähr einen Monat gekostet. Die Bilanz enthielt eine Menge Rauschen, und um diese spezielle Frage zu beantworten, musste ich das alles aus dem Weg räumen.« Weil wandte sich an Thomas Linsmeier, Professor für Bilanzwesen an der University of Michigan. Von dem erfuhr er, dass in den neunziger Jahren einige Finanzunternehmen die Neubewertung für den Markt der Subprime-Hypotheken verwendet hatten, also für Kredite, die an Kunden mit höherem Ausfallrisiko vergeben wurden. Als die Konjunktur sich verschlechterte und die Konsumenten entweder zahlungsunfähig wurden oder schneller zurückzahlten als erwartet, mussten die Kreditgeber mit einem Mal feststellen, dass sie ihre Gewinne zu großzügig eingeschätzt hatten. Weil sprach außerdem mit einem Mitarbeiter des Financial Accounting Standards Board, einem Analysten der Rating-Agentur Moody’s und einem guten Dutzend anderer Experten. Dann setzte er sich wieder an die Enron-Bilanzen. Seine Schlussfolgerungen waren ernüchternd. Im zweiten Quartal des Jahres 2000 waren 747 Millionen Dollar der ausgewiesenen Gewinne fiktiv, das heißt, es handelte sich um Geld, von dem das Management meinte, dass es irgendwann in die Kassen kommen könnte. Wenn man diese fiktiven Gewinne abzog, hatte Enron im zweiten Quartal erhebliche Verluste gemacht. Enron war einer der angesehensten Konzerne der Vereinigten Staaten und nach seinem Börsenwert das siebtgrößte Unternehmen des Landes, doch es verzeichnete praktisch keine Einnahmen.
Weils Artikel wurde am 20. September 2000 im Wall Street Journal veröffentlicht. Einige Tage später las ihn ein Wall Street Banker namens James Chanos. Chanos ist ein Leerverkäufer, ein Investor, der darauf spekuliert, dass die Aktien eines Unternehmens fallen. »Da habe ich die Ohren gespitzt«,
Weitere Kostenlose Bücher