Was der Hund sah
berichtete Chanos. »Gleich am Wochenende habe ich mir die 10-K und 10-Q angeschaut«, also die Bilanzen, die Aktiengesellschaften den Aufsichtsbehörden vorlegen müssen. »Ich habe sie überflogen und alles angestrichen, was mir fragwürdig vorgekommen ist. Beim zweiten Durchgang habe ich mir alles angeschaut, was ich nicht verstanden hatte, und habe es zwei- oder dreimal gelesen. Ich habe einige Stunden damit zugebracht.« Er erkannte, dass Enrons Renditen und Kapitalerträge in den Keller gingen. Der Cashflow - das Lebenselixier eines Unternehmens - tröpfelte nur noch, und Enrons Kapitalkosten lagen über der Ertragsrate. Es war so, als würde man einen Bankkredit für 9 Prozent aufnehmen und das Geld zu 7 Prozent anlegen. »Enron hat sich buchstäblich selbst abgewickelt«, meinte Chanos.
Im November des Jahres stieß Chanos Enron-Optionen ab. In den nächsten Monaten erzählte er herum, dass Enron in Schwierigkeiten war. Er gab der Fortune -Reporterin Bethany McLean einen Hinweis. Sie las dieselben Bilanzen, die schon Weil und Chanos studiert hatten, und kam zu demselben Schluss. Im März 2001 veröffentlichte Fortune ihren Artikel unter der Überschrift »Is Enron Overpriced?« (Ist Enron überbewertet?) Immer mehr Journalisten und Analysten nahmen Enron unter die Lupe, und die Aktien fielen. Im August trat Skilling zurück. Enrons Kreditwürdigkeit wurde zurückgestuft. Banken zögerten, Enron das Geld zu leihen, das es für seine Transaktionen benötigte. Im Dezember war das Unternehmen zahlungsunfähig.
Der Enron-Skandal wurde derart genau dokumentiert, dass man leicht vergisst, wie ungewöhnlich er eigentlich war. Vergleichen wir ihn beispielsweise mit Watergate, dem klassischen Skandal der siebziger Jahre. Zur Enthüllung der Vertuschungsmanöver des Weißen Hauses waren die Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein auf einen Informanten mit dem Decknamen Deep Throat angewiesen, der Zugang zu zahlreichen Geheimnissen hatte, und dessen Identität geschützt werden musste. Deep Throat warnte Woodward und Bernstein, dass ihre Telefone abgehört werden könnten. Um sich mit Deep Throat zu treffen, musste Woodward einen Blumentopf mit einer roten Fahne auf seinen Balkon stellen. An diesem Abend verließ er seine Wohnung über die Feuertreppe, nahm mehrere Taxis, um sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wurde, und traf seinen Informanten um 2 Uhr morgens in einer Tiefgarage. In ihrem Buch Die Watergate-Affäre schildern Woodward und Bernstein die Begegnung so:
»Okay«, sagte er leise. »Die Sache ist sehr ernst. Wir können mit Sicherheit sagen, dass fünfzig Leute für das Weiße Haus und Nixons Wahlkampfkomitee gearbeitet haben, um Spielchen zu spielen, zu spionieren, zu sabotieren und Informationen zu sammeln. Einiges ist kaum zu glauben. Es ging darum, die Opposition auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu treffen.«
Deep Throat nickte, als ihm Woodward eine Liste der Taktiken vorlas, die nach seiner und Bernsteins Information gegen die Opposition zum Einsatz gekommen waren: Personen wurden abgehört und verfolgt, der Presse wurden falsche Informationen zugespielt, Briefe wurden gefälscht, Wahlkampfveranstaltungen abgesagt, das Privatleben von Wahlhelfern ausspioniert, Spione eingeschleust, Dokumente gestohlen und Provokateure bei politischen Demonstrationen eingesetzt.
»Das finden Sie alles in den Dokumenten«, sagte Deep Throat. »Das Justizministerium und das FBI sind informiert, aber sie haben nichts unternommen.«
Woodward war erschüttert. Fünfzig Personen waren vom Weißen Haus und dem Wahlkampfkomitee angewiesen worden, die Opposition zu zerstören, egal mit welchen Methoden?
Deep Throat nickte.
Das Weiße Haus war bereit, den gesamten demokratischen Prozess zu sabotieren - war das das richtige Wort? Es hatte sogar den Versuch dazu unternommen?
Ein weiteres Nicken. Deep Throat wirkte blass.
Und es hatte dazu fünfzig Agenten angeworben?
»Mit Sicherheit mehr als fünfzig«, sagte Deep Throat. Dann drehte er sich um und ging die Rampe hinauf nach draußen. Es war fast 6 Uhr morgens.
Watergate war ein klassisches Rätsel. Woodward und Bernstein suchten nach verborgenen Informationen, und Deep Throat war ihr Führer.
Jonathan Weil hatte keinen Deep Throat. Er hatte einen Freund in einer Investmentbank, dem das Finanzgebaren von Energieunternehmen wie Enron verdächtig vorkam, doch dieser Freund war kein Insider. Er führte Weil auch nicht zu Dokumenten, aus denen die
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