Was der Winter verschwieg (German Edition)
Kinder – das werden meine vordringlichsten Aufgaben sein. Sie müssen mir versprechen, mich zu besuchen.“
„Aber natürlich.“ Sophie war bereits mehrere Male in Umoja gewesen. Selbst in den Nachwehen des Krieges war es ein Land von herzerweichender Schönheit. Die Kämpfe und die Eingriffe in die Natur durch den Bau von Minen hatten die Anzahl der Städte dezimiert, aber es gab immer noch weite, unberührte Landstriche mit rotsandigen Wüsten und Regenwäldern in den Bergregionen. An einigen Flussläufen fing man bereits damit an, die Dörfer neu aufzubauen.
„Ich werde Sie an das Versprechen erinnern“, sagte Mme Lateef. Die aufrichtige Dankbarkeit in ihren Augen berührte Sophies Herz. „Ich bin sehr froh, Sie kennengelernt zu haben.“
„Und es war mir eine Ehre, der Gerechtigkeit zu dienen.“ Sophie schaute ihre Kollegin weiter an, als diese zurücktrat und mit ein paar Kindern in ihrer Landessprache sprach. Das waren die Momente, für die Sophie lebte. Diese Augenblicke, in denen sie absolute Sicherheit verspürte, dass das, was sie tat, wichtig war. Dass es all die Schmerzen und persönlichen Opfer wert war. Aber wie immer blieb eine Frage offen – sahen ihre Kinder das genauso?
Während sie weiter darauf wartete, den Premierminister zu begrüßen, trat ein Mann mit einem Presseausweis am Revers auf sie zu. „Brooks Fordham,
New York Times
. Bitte erzählen Sie uns, worum es heute Abend geht.“
Sophie schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln. „Mr Fordham, wenn Sie die wahre Geschichte hören wollen, bräuchte ich Stunden, um sie zu erzählen.“
„Ich will die wahre Geschichte. Aber warum geben Sie mir nicht eine Kurzfassung? Und bitte, nennen Sie mich Brooks.“
Sophie kannte diesen Typ Reporter – verwöhnt, ehrgeizig, hervorragend ausgebildet, gut aussehend und sehr von sich eingenommen. Dennoch gab sie nach und erzählte ihm eine Kurzfassung der Ereignisse, die sie an diesem Abend hier zusammengebracht hatten. Umoja war eine versklavte Nation gewesen, unterdrückt von einem halblegalen Syndikat aus europäischen Diamantenhändler und ihren afrikanischen Mitarbeitern, angeführt von einem berüchtigten Kriegsverbrecher namens General Timi Abacha. Zwei Jahrzehnte lang war das Land von einer gnadenlosen Miliz gelenkt worden, die sich durch den Handel mit Blutdiamanten finanziert hatte. Mit der Zeit hatten die Gräueltaten so schlimme Ausmaße angenommen, dass der Rest der Welt darauf aufmerksam geworden war.
Dann kam das Foto, das schließlich das öffentliche Bewusstsein auf den Plan rief. Das Bild zeigte einen eingeborenen Jungen, dem eine Hand und ein Ohr fehlten. Er schaute in die Kamera mit Augen, die jegliche Unschuld verloren hatten. Er war seiner Familie entrissen, zur Arbeit gezwungen und mit Misshandlungen bestraft worden. Und alles nur, weil er klein genug war, um in einen Minenschacht zu passen. Das Bild schaffte es auf die Titelblätter aller wichtigen Zeitschriften und Magazine und trieb die Weltgemeinschaft an, etwas zu unternehmen. Ein Team aus internationalen Ermittlern überprüfte die Vorfälle von Sklaverei und Missbrauch, den Einsatz von Kindersoldaten und die Vergewaltigungen. Der Fall wurde mit äußerster Sorgfalt aufgebaut und betraf viele der hauptsächlichen Drahtzieher. Wer die falschen Leute befragte oder sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt, fiel schnell mal einem „Unfall“ zum Opfer.
Sophie kannte die Geschichte auswendig und vermutlich besser als jeder andere im Raum. In der Vorbereitung des Falles hatte sie sich tief in die rote Erde dieses Staates vergraben. Auf der Karte sah das Land aus wie ein Glaskrug, dessen Ausguss auf die oberste Ecke von Südafrika zeigte.
Und genau das machte Umoja so wertvoll. In den Grenzgebieten lagen einige der ergiebigsten Diamantminen der Welt, in denen Steine von außergewöhnlicher Güte gefördert wurden. Über unzählige Generationen hatten die Eingeborenenstämme sich gegen die europäischen Kolonialherren und feindliche Stämme zur Wehr gesetzt. Doch dann gelang es einem schwer bewaffneten Stamm, die Herrschaft in einem blutigen Putsch an sich zu reißen.
Das Volk erlitt unvorstellbare Qualen – Vergewaltigungen, ethnische Säuberungen, Genozid. Kleine Jungen wurden als Soldaten verpflichtet, kleine Mädchen benutzt und aussortiert oder gezwungen, die Kinder ihrer Vergewaltiger auszutragen. In der Vorbereitung des Falles gegen den Diktator und Kriegsherren hatten Sophie und ihr Team Opfer
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