Was die Nacht verheißt
petzte. Weißt du noch, wie Geoffrey, du und ich einmal seinetwegen eine Tracht Prügel bekommen haben? Er rannte zu Vater und erzählte ihm, wir drei wären vor den Höhlen unten an der Klippe schwimmen gegangen, und das hatte Vater verboten -«
»Ja, und zu Recht, denn da war es verdammt gefährlich, wenn die Flut kam.«
»Das stimmt, aber was ich sagen will, ist, dass der Junge schon als Kind immer Unruhe gestiftet hat. Und es sieht danach aus, dass der Mann derjenige ist, der hinter den Sabotageakten auf die Hawksmoor Schifffahrtsgesellschaft steckt.«
»Du meinst, das Motiv könnte einfach das Geld sein.«
»Genau. Wenn seine Finanzlage nicht so rosig wäre, wie sie scheint und er in Geldnöten wäre, könnte man sich gut vorstellen, dass er sich einen Plan ausdenkt, um seinen größten Konkurrenten zu sabotieren. Reynolds und Kelly tun ihr Bestes, das herauszufinden.«
Rex sagte nichts. Er kannte die Wahrheit nicht, und Marcus auch nicht, aber er wünschte, sein Bruder möge Unrecht haben. Palmer war doch, in gewissem Sinne, ein Freund der Familie, aber was immer die Wahrheit sein mochte, früher oder später würde es sein Bruder herausfinden. Rex schauderte, als er sich vorstellte, was passieren würde, wenn er so weit war.
Er starrte hinaus aufs Meer, sobald er vor dem Fenster im Salon saß oder im Garten über den Klippen, den dunklen Blick unverwandt auf den Horizont gerichtet.
Brandy wusste, was Marcus dachte, wusste, dass ihm die fortschreitende Genesung seiner Beine erlaubte, wieder zu träumen und über seine Rückkehr auf die See nachzudenken.
Seit jenem Tag, an dem er festgestellt hatte, dass er wieder ein Mann war, hatte er unglaubliche Fortschritte gemacht. Er hatte sie seither nicht mehr angerührt, und Brandy wusste, warum. Er machte sich Sorgen, dass sie schwanger werden könnte, eine Verantwortung, die er nicht zurücklassen wollte, wenn er wieder lossegelte.
Ein leises Ziehen schmerzte in ihrer Brust. Mit jedem neuen Tag ging Marcus das Problem seiner Wiederherstellung mit fast übermenschlichen Kräften an. Inzwischen konnte er beide Beine so gut bewegen, das es beinah wie Gehen aussah, obwohl er sich dabei noch auf die beiden Balken stützen musste und seine Schritte noch ungeschickt und schwach wirkten. Mit jeder neuen Verbesserung wurde Brandys Verzweiflung größer, denn sie wusste: Je eher er allein gehen konnte, desto eher würde er sie verlassen.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft versuchte sie wirklich, ihn zu bremsen, schlug vor, dass sie sich eine Weile zusammen in den Garten setzen sollten, wobei sie so tat, als stünde der Winter noch nicht bevor und als wäre es gar nicht kalt. Oder sie wollte einen Spaziergang mit ihm machen, bei dem einer der Bediensteten seinen Rollstuhl über den Pfad auf der Klippe schieben konnte.
Jedes Mal lehnte er ab.
»Ich habe keine Zeit für solchen Firlefanz, und du auch nicht. Ich muss meine Beine üben, und du solltest mit Professor Felton arbeiten.«
Er drängte sie, so viel wie möglich zu lernen, drängte sie ebenso sehr wie sich selbst. Sie wusste, dass er das tat, weil er das Beste für sie wollte, und sichergehen, dass sie eine Chance für die Zukunft hatte, wenn er nicht mehr da war.
Brandy saß im Wohnzimmer ihres kleinen Hauses und spürte eine Enge in der Brust. Zu wissen, dass er sich Gedanken um sie machte und sie liebte, verringerte ihren Schmerz nicht. Sie wusste, dass er gehen würde - er hatte kein Geheimnis daraus gemacht. Das zu wissen, tat ihr weh, aber sie konnte es nicht ändern.
Die Zeit verging. Bis Ende November war die Seehabicht schon seit einem Monat wieder flott - und Marcus Delaine konnte gehen. Seine Schritte waren immer noch ein wenig ungeschickt, und er musste einen Stock benutzen, aber dennoch konnte er gehen, und es drängte ihn mehr und mehr danach aufzubrechen.
Rex musste das bemerkt haben, denn es lag in Marcus’ Blick, wann immer er hinaus aufs Wasser sah. Und weil es so deutlich sichtbar war, lag in Rex’ Blick jedes Mal eine Spur von Mitleid, wenn er Brandy sah.
»Du weißt, dass er bald gehen wird«, sagte er eines Morgens, als er mit ihr im Garten spazieren ging. Die Seeluft war feucht und salzig und kühl auf der Haut. Das Geräusch der Wellen, die unten an die Klippen donnerten, klang aus der Tiefe herauf. »Er wird nicht zufrieden sein, bis er nicht wieder draußen auf See ist.«
Der Schmerz kam wieder, schnell und scharf. »Ich weiß.«
»Wirst du zurück nach Charleston
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