Was die Nacht verheißt
den leichten Schimmer der Tränen schon gesehen. Sie blinzelte heftig, dann wischte sie eine Träne weg, die über ihre Wange rann. Sie richtete ihre kleine Gestalt auf und sah ihn wieder an. »Das ist eine lächerliche Art, sich zu fühlen, und das werde ich ihm auch sagen. Bitte ... Ihr müsst mir erlauben, ihn zu sehen.«
Sein einer Mundwinkel hob sich. »Irgendwie glaube ich nicht, dass ich Euch aufhalten könnte, selbst wenn ich das wollen würde.«
Sie versuchte zu lächeln, aber er konnte sehen, wie besorgt sie war.
»Normalerweise würde ich ihm ankündigen, dass er Besuch hat, aber wenn ich das mache ...«
»Wenn Ihr das macht, weigert er sich vielleicht, mich zu sehen.«
»Ganz genau.«
»Dann werden wir ihn überraschen. Wir werden ihm einfach keine Wahl lassen.«
Rex grinste. »Ungefähr so, wie Ihr es schon einmal gemacht habt, Miss Winters, als Ihr Euch als blinder Passagier an Bord seines Schiffes verstecktet?«
Ihre Wangen röteten sich ein wenig. Ihre Lippen waren voll und schön geformt und hoben sich jetzt an den Mundwinkeln. »Ziemlich genau so, Sir. Ja, wirklich, ziemlich genau so.«
Brandy folgte Rex Delaine zurück in den Flur und mit hallenden Schritten über den schimmernden Marmor. Ihre Knie zitterten. Sie war einfach nicht in ihrem Element in diesem prächtigen Haus, das eindrucksvoller war als alles andere, was sie je gesehen hatte. Sie hatte ihren ganzen Mut aufbringen müssen, um über die Allee der Einfahrt und die einschüchternd breiten Stufen zum Haus hinaufzugehen. Aber sie war wegen Marcus gekommen, und kein Haufen Steine, egal, wie kunstvoll zusammengesetzt, würde sie von ihm fern halten.
Sie gingen weiter den Flur entlang, und Brandy blieb neben einem schmalen Tisch mit einer Marmorplatte stehen, um Hut und Handschuhe abzulegen. Obwohl sie wenig Ahnung von Benimmregeln hatte, war sie sicher, dass das nicht die feine Art war für eine Dame, die zu Besuch war, aber die Haube gefiel ihr nicht wirklich gut, die Flo mit ihr ausgesucht hatte, und sie wollte, dass Marcus nicht ihre neuen Kleider, sondern die Frau, die sie vorher gewesen war, sah - das Wirtshaus-Mädel, das er auf dem Kai von Charleston zurückgelassen hatte.
»Bereit?«, fragte sein Bruder, ohne ihr seltsames Verhalten zu hinterfragen, so als könnte er sie vielleicht verstehen. Sie mochte den jüngsten Delaine. Er war gut aussehend und bewegte sich mit Grazie, eine weichere, weniger kraftvolle Version von Marcus, und instinktiv glaubte sie, dass er seinen Bruder sehr liebte.
Und er machte sich Sorgen um ihn. Große Sorgen.
»So bereit, wie ich je sein werde.« Was natürlich bedeutete, dass sie überhaupt nicht bereit war. Sie zitterte innerlich, und ihre Angst und Unsicherheit nahmen mit jedem Augenblick zu. Sie wollte Marcus verzweifelt gern wieder sehen, und es schmerzte sie, daran zu denken, wie sehr er hatte leiden müssen.
Als Rex vor der Tür eines weiteren der vielen Salons des Herrenhauses stehen blieb, holte Brandy ganz tief Luft, um sich Mut zu machen. Was würde Marcus sagen, wenn er sie sah? Würde er sich freuen, dass sie gekommen war? Oder verärgert sein, dass sie sich einfach wieder in sein Leben einmischte?
»Sollen wir hineingehen, Miss Winters?«, fragte Rex.
Sie richtete sich auf und nickte, bereit, Marcus entgegenzutreten. In dem Augenblick, als sich die Tür öffnete, wurde ihr allerdings klar, dass sie absolut nicht bereit war, nicht, als sie ins Zimmer trat und der Mann in dem Sessel mit der hohen Lehne seinen Kopf drehte und in ihre Richtung schaute.
Einen Moment lang schwankte sie, und nur der sanfte Druck von Rex Delaines Hand an ihrem Arm hielt sie davon ab, umzufallen. Statt des hoch gewachsenen, unerträglich attraktiven Mannes, den sie geliebt hatte, starrte sie ein dünner, hohläugiger Mann mit hagerem Gesicht an, seine Züge verzerrt zu der Parodie des arroganten, dynamischen Menschen, der er früher gewesen war.
Seine Wangenknochen wirkten scharf wie Rasiermesser, seine Wangen waren bleich und eingesunken, sein schwarzes Haar zu lang und ungekämmt. Er trug keinen Rock, und sein Rüschenhemd war in einer Weise zerknittert, die er früher nie geduldet hätte.
Und doch sah sie sofort über seinen trostlosen Zustand hinweg. Er war Marcus, und er litt.
Sie musste sich die größte Mühe geben, nicht zu ihm zu laufen und ihn fest an sich zu drücken. Sie wollte ihn trösten, seinen verletzten Körper heilen - und seine gequälte Seele dazu.
»Marcus ...«, flüsterte
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