Was die Nacht verheißt
Freund.
Marcus saß in seinem Sessel und biss die Zähne zusammen. Seine Hand ballte sich zur Faust und schlug auf seine tauben, gefühllosen Beine. Wie konnte sie es wagen, sich einfach noch einmal so dreist in sein Leben zu drängen? Wie konnte sie es nur wagen? Wenn es möglich gewesen wäre, wäre er im Zimmer auf und ab gelaufen. Stattdessen saß er in seinem Sessel, seine Eingeweide schienen sich zusammenzuballen, und er gab ihr alle möglichen Schimpfnamen, die ihm einfielen.
Der letzte Mensch auf der Welt, den er sehen wollte, war Brianne Winters. Der letzte Mensch auf der Welt, von dem er wollte, dass er ihn so sah, wie er jetzt war, die gebrochene, nutzlose Hülle eines Mannes, war Brianne Winters. Gott, wie hatte sein Bruder sie nur hereinlassen können?
Er dachte noch einmal an die vergangenen Momente zurück, wünschte, er hätte Rex Delaine erwürgen können, hätte den Ausdruck des Mitleids auf Briannes hübschem Gesicht auslöschen können. Er hatte nur einen Moment gehalten, aber er war doch da gewesen, und er würde ihn nie mehr vergessen.
»Eure Lordschaft?« Ein Lakai streckte nervös den Kopf zur Tür des Salons herein.
»Was willst du?«, fuhr ihn Marcus an. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will.«
»Ihr habt den ganzen Tag noch nichts gegessen, Mylord. Euer Bruder dachte, vielleicht -«
»Wenn ich etwas zu essen will, klingele ich, dass man mir ein Tablett bringt. Jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe.«
»J-ja, Mylord, natürlich.«
Die Tür schloss sich eilig, und Marcus war wieder allein. Er wandte sich um und starrte wieder aus dem Fenster. Da das Haus ganz oben auf der Klippe der Küste von Cornwall gebaut war, hatte es einen unübertrefflichen Blick aufs Meer. Heute war es von einem dunklen Mitternachtsblau, das sich ungebrochen bis zum Horizont ausdehnte. Der Himmel war immer noch klar, aber ein paar Wolken fingen an herüberzutreiben. Die Sonne verblasste und verschwand hinter einer Wand von heraufziehendem Nebel. Das Meer blieb ruhig -ganz anders als Marcus, der immer noch wütend war.
An den meisten Tagen betrachtete er das Meer mit Sehnsucht, die Gedanken bei seinem Schiff und den Tagen, die er an Deck verbracht hatte, Tage, die nie wiederkommen würden.
Es zerriss ihn, daran zu denken, und doch konnte er nicht damit aufhören. Tag um Tag saß er in diesem Salon, verzehrt von dem Verlust, den er spürte, verzehrt von der Sehnsucht nach dem Leben, das er geliebt hatte, nach den Reisen, die er nie mehr machen würde, dem Schiff, das nie wieder unter seinem Befehl segeln würde.
Wie an diesem Tag und dem Tag davor und dem Tag davor starrte Marcus hinaus auf die Wellen, hörte das durchdringende Kreischen einer grauweißen Möwe, die über dem Wasser kreiste. Dann glitt ein fernes Segel über den Horizont, ein Anblick, der ihm früher am Tag den Magen vor Kummer zusammengeknotet hätte.
Jetzt war er so verärgert, dass er die Szene kaum zur Kenntnis nahm, die ihn sonst den Rest des Tages noch hätte verfolgen können.
Stattdessen war das Einzige, was er in der riesigen Glasscheibe sah, das Gesicht der Frau, die wie ein Gespenst aus seiner Vergangenheit aufgetaucht war. Das Einzige, was er noch vor sich hatte, waren plötzlich die goldbraunen Augen und das feurig rote Haar der Brianne Winters.
Brandy konnte nicht schlafen. Jedes Mal, wenn sie die Augen zumachte, sah sie Marcus’ hageres, müdes Gesicht, den matten Schimmer von Schmerz in seinem Blick, den schrecklichen Ausdruck der Niederlage.
Er ertrank in Sorgen und Kummer. Er konnte das, was er verloren hatte, nicht mehr verdrängen. Das Leben war so wertvoll, konnte so süß sein. Mein Gott, sie musste ihm helfen.
Am Morgen war sie völlig erschöpft. Ihre Muskeln schienen zu ächzen vor Müdigkeit, und ein dumpfer Schmerz pochte in ihren Schläfen. Trotzdem zwang sie ihre Beine, sich aus dem Bett zu bewegen, hob einen Arm, um nach ihrer Zofe Sally Dunston zu klingeln, und begann, sich für den Tag bereitzumachen.
»Ich habe Euch ein paar Pralinen und Gebäck gebracht«, sagte Sally und stellte das Tablett auf einen kleinen, geschnitzten Tisch neben dem Toilettentisch. Sie hatte dunkelbraunes Haar, war schlank gebaut, schüchtern und ein wenig wortkarg, aber sie war nett und aufmerksam, und Brandy hatte eine Begleiterin gebraucht, die mit ihr nach England fuhr, da es kaum annehmbar für eine junge Dame war, allein zu reisen.
Am Anfang hatte sie gehofft, dass Flo mit ihr kommen würde, doch
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