Was die Seele krank macht und was sie heilt
jedoch ausmalt, wie die Eltern in der Vergangenheit hätten besser sein sollen oder was sie für ihn noch hätten tun können, verpaßt die Gelegenheit, das Wesentliche zu nehmen.
Das Nehmen besitzt die erstaunliche Eigenschaft, daß es trennt. Wer nimmt, sagt damit auch: »Es ist viel, was ihr mir geschenkt habt, und es reicht. Das übrige mache ich selbst, und jetzt lasse ich euch in Frieden.« Eine solche Haltung macht den Menschen selbständig.
Nehmen, so wie Bert Hellinger es versteht, ist ein demütiges Tun. Deswegen grenzt er es scharf vom Annehmen ab. Das Annehmen ist gnädig, Nehmen aber heißt, daß ich es genauso bejahe, wie es ist. Ein solches Nehmen ist jenseits aller Moral, weder gut noch böse.
Wenn jemand eine Prostituierte zur Mutter hat und er sagt innerlich zu ihr, auch wenn du eine Prostituierte bist, ich nehme dich als meine Mutter, dann kann er seine Mutter nicht mehr nehmen. Das gleiche gilt, wenn er sagt: »Du hast viele Erziehungsfehler gemacht, und dennoch nehme ich dich als meine Mutter.« Das Nehmen der Mutter gelingt erst, wenn das Kind in Liebe zur Mutter sagt: »Ich nehme dich, so wie du bist, als meine Mutter. Du bist genau die Richtige für mich.« Solange er den Schmerz über den Beruf der Mutter fühlt, hat er sich den Weg zu ihr verstellt. Er muß den Schmerz überwinden, damit er seine Mutter nehmen kann.
In der Psychotherapie wird häufig in der Eltern-Kind-Beziehung nur das Vordergründige gesehen. Oft ist es üblich, die Wut auf die Eltern zu kultivieren, statt nach der Urliebe zwischen Eltern und Kindern zu schauen, die sich dahinter verbirgt. Oft lautet das Motto: »Schrei die Wut auf deinen Vater heraus!« - »Hau auf den Sack und zeig’s deinen Eltern!«
Subjektiv glaubt der Klient zwar eine Entlastung bei solchem Tun zu spüren, auf lange Sicht jedoch bestraft er sich dafür. Wie schon zu Anfang beschrieben, kann er schnell depressiv werden. Wenn er bereits vor dem Beginn der Psychotherapie depressiv war und in der Therapie seine Wut auf die Eltern herausläßt, dann drückt er dadurch die Eltern nochmals von sich weg, und sein Zustand kann sich verschlimmern.
Nicht selten kommt es in der Therapie auch vor, daß ein Klient sagt: »Ach, hätten mich meine Eltern doch nur nicht geboren! Warum haben die sich das nicht besser überlegt? Jetzt muß ich die Suppe auslöffeln. Besser wäre es, es gäbe mich gar nicht.« Mir kommen solche Worte wie ein verbaler Selbstmord vor, denn damit sagt man nein zu den Chancen, die man erhalten hat.
Das Nehmen der Eltern hat auf die Beziehung zwischen Kindern und Eltern eine segensreiche Wirkung. Ein junger Mann hatte in einer Sitzung seinen Vater genommen. Monate später erzählte mir seine Ehefrau, daß die Zusammenkünfte mit den Schwiegereltern seit neuestem nicht mehr spannungsgeladen, sondern sogar harmonisch seien. Die Eltern würden ganz anders mit dem Sohn umgehen, obwohl doch das Nehmen in aller Stille geschah. Die meisten Eltern würden wohl befremdet reagieren, wenn man die hier beschriebenen Sätze ihnen gegenüber aussprechen würde. Daß aber ihre Seele dem zustimmt, kann man in Familienaufstellungen erleben. Es gibt jedoch Fälle, in denen man den Eltern wirklich etwas sagen muß.
Dagegen hat das Recht auf die Liebe der Eltern derjenige verspielt, der ihnen ein schlimmes Unrecht angetan hat oder sie tief verachtet. Er kann nicht mehr zu Vater oder Mutter hingehen. In solchen Fällen kann man nur noch sagen »Es tut mir leid« oder vielleicht auch »Ich gebe dir die Ehre«. Wenn der Betreffende eine tiefe Reue spürt, kann sie sehr heilsam für ihn sein. Dazu ein Beispiel:
Zu mir kam ein Mann, der drogen- und sexsüchtig war. Da er die Drogensucht einigermaßen unter Kontrolle hatte, war sein Hauptanliegen die Behandlung der Sexsucht. Er schilderte mir, daß in seinem beruflichen und privaten Leben eine Katastrophe die nächste jage, auch vor Gericht habe er sich für mancherlei zu verantworten. Alles sei am Zusammenbrechen. Er beteuerte, er wolle ein neues Leben anfangen. In der Vergangenheit, so schilderte er, war er auch Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen. Auf meine Nachfragen hin versicherte er, daß er an Mordanschlägen nie beteiligt gewesen sei. Er habe nur an Aktionen mit Sachbeschädigungen mitgewirkt - und auch da nicht unmittelbar als Ausübender, sondern nur im Vorfeld.
In der Zeit seiner terroristischen Aktivitäten hatte er seinen Vater nicht nur aufs heftigste verachtet, sondern ihn
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