Was die Seele krank macht und was sie heilt
der Regel Eltern nicht für eine Beratung an, wenn sie ihre Kinder dabeihaben. In der klassischen Familientherapie hingegen ist es üblich, daß Eltern und Kinder gemeinsam mit dem Therapeuten reden. Dabei kann es natürlich auch Vorkommen, daß die Kinder ihre Eltern als schwach erleben. Manch einem mag es übertrieben erscheinen, doch allein die Tatsache, daß Eltern einen Therapeuten in Anspruch nehmen und die Kinder davon erfahren, findet Hellinger problematisch. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn die Kinder erwachsen sind.
Die unterbrochene Hinbewegung
Wenn ein Kind ein starkes Gefühl von Verlust und Trennung erlebt, etwa durch einen frühen Krankenhausaufenthalt, führt das zu einer Störung. Eine solch unterbrochene Hinbewegung entsteht häufig im ersten Lebensjahr, und sie bezieht sich meist auf die Mutter.
Wann immer das Kind später als Erwachsener auf andere zugeht (Hinbewegung), kommt unbewußt die Erinnerung an diese Unterbrechung hoch, und die damaligen Gefühle und Symptome, wie Wut, Haß, Trauer, Verzweiflung und Resignation, treten hervor. Auch Kopfdruck, Magenschmerzen oder Verspannung können die Symptome sein. Nicht selten zeigt sich die damalige Entscheidung als problematisch: »Ich werde nie mehr im Leben um etwas bitten« oder »Ich werde mich nie mehr schwach zeigen«.
Statt die Hinbewegung weiterzuführen, bis sie endlich ans Ziel kommt, so Hellinger, »weicht der Erwachsene zurück, oder er beginnt eine Kreisbewegung, bis er zum gleichen Punkt zurückkommt, und das ist das ganze Geheimnis der Neurose«. (ZG: 215)
Eine unterbrochene Hinbewegung erkennt man in der Praxis nicht nur an den oben beschriebenen Symptomen, sondern auch am Umgang mit den Eltern. Meist wollen die Betroffenen mit jenem Elternteil, zu dem die Hinbewegung unterbrochen ist, möglichst wenig zu tun haben. Nicht selten sprechen sie auch abwertend über diesen Elternteil, brechen die Beziehung zu ihm ab und behaupten, daß sie gegenüber Vater oder Mutter »nichts empfinden«. Dieses »Nichtempfinden« schützt den Klienten vor der Wahrnehmung des Schmerzes. Doch der Schmerz ist nur verdrängt.
Auch bei Angststörungen handelt es sich häufig um einen verdrängten Schmerz infolge einer unterbrochenen Hinbewegung. Wenn ein Kind den Vater oder die Mutter durch Tod oder Trennung verloren hat, wird es böse auf diesen Elternteil. Da das Kind jedoch in Urliebe an die Eltern gebunden ist, läßt es diese Wut kaum zu: Die Wut verschiebt sich zu Angst. Das Kind fürchtet sich vor der Wut und deren Folgen und sucht lieber Zuflucht bei der Angst. Schon Sigmund Freud hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen: »Die gewöhnlichste Ursache der Angstneurose ist die frustrane Erregung. Es wird eine libidinöse Erregung hervorgerufen, aber nicht befriedigt, nicht verwendet; an Stelle von dieser von ihrer Verwendung abgelenkten Libido tritt dann Ängstlichkeit auf. Ich glaube mich sogar berechtigt zu sagen, diese unbefriedigte Libido verwandelt sich direkt in Angst. [...J Die Einsamkeit sowie das fremde Gesicht [einer anderen Person] erwecken die Sehnsucht nach der vertrauten Mutter; das Kind [und auch der spätere Erwachsene] kann diese libidinöse Erregung nicht beherrschen, | ...] sondern verwandelt sie in Angst.« 11
Bert Hellinger läßt in seiner Arbeit den Klienten regredieren, bis er in der Kindheit wieder an das Ereignis gelangt, das die Auslösung für die Unterbrechung der Hinbewegung war. Hellinger vertritt dann den betreffenden Elternteil und hält den Klienten fest, bis die ursprüngliche Liebe, die in Wut und andere Gefühle umgeschlagen ist, wieder offen als Liebe und Sehnsucht zur Mutter oder zum Vater fließen kann.
In einem Kurs erzählte Hellinger, wie die Mutter einem Kind helfen kann, die unterbrochene Hinbewegung zum Ziel zu bringen. Eine Mutter sorgte sieh um ihre Tochter, die sie mied und nur selten nach Hause kam. Hellinger sagte ihr, sie müsse die Tochter noch einmal halten, wir eine Mutier ihr trauriges Kind hält. Doch sie solle in ihrer Seele nur das gute Bild wirken lassen, bis die Lösung sich von selber anbahne. Nach einem Jahr, so berichtete die Mutter, sei die Tochter nach Hause gekommen, habe sich still und innig an sie geschmiegt, und sie habe sie lange gehalten. Dann erhob sich die Tochter und ging. Weder die Mutter noch die Tochter hatten etwas gesagt. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie gute Bilder wirken können.
In einem anderen Fall schrieb Bert Hellinger einer Frau: »Die
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