Was die Toten wissen
Künstler gefangen in einem Geschäftsmann. Er verkaufte Versicherungen, aber er war ein Poet. Ich war beim Finanzamt, aber das hat mich ebenfalls nicht ausgefüllt. Verstehst du das nicht?«
»War Stevens nicht der Vizepräsident bei der Versicherungsgesellschaft? Und hat er nicht noch weitergearbeitet, als er seine Gedichte schrieb?«
»Na ja, es ist keine exakte Parallele. Aber auf der Gefühlsebene ist es dasselbe.«
Darauf hatte Miriam nichts mehr erwidert.
Endlich fand er die Eier und brachte sie zur Ladentheke. Der Laden war leer. Er sah sofort in der Kasse nach, aber sein bisschen Wechselgeld war noch da, und ein rascher Blick auf die Preziosen – na ja, um genau zu sein, waren es nur Halbedelsteine,
Schmuckstücke aus Opalen und Amethysten – verriet ihm, dass sie unangetastet im Glaskasten lagen. Erst da bemerkte er das Kuvert auf der Ladentheke, das an Dave Bethany adressiert war. War, während er hinten gewesen war, der Postbote da gewesen? Aber auf dem Briefumschlag befanden sich weder Stempel noch Adresse, nur sein Name.
Er öffnete den Umschlag und fand einen Zettel in einer schnörkeligen Handschrift, passend zu der Stimme der Frau im rosa Kostüm.
Lieber Mr. Bethany,
Sie sollten wissen, dass Ihre Frau eine Affäre mit ihrem Chef, Jeff Baumgarten, hat. Warum bereiten Sie dem nicht ein Ende? Schließlich sind auch Kinder von der Sache betroffen. Außerdem ist Mr. Baumgarten glücklich verheiratet und würde seine Frau niemals verlassen. Darum gehören Mütter auch nicht in Büros.
Der Brief war ohne Unterschrift. Aber Dave war sicher, dass Mrs. Baumgarten ihn geschrieben hatte, was bedeutete, dass ihre Ostereiermission eine sorgfältig geplante Schwindelei gewesen war. Dave wusste nicht viel von Miriams Chef, außer dass er Jude war; wahrscheinlich hatte er sogar nur ein paar Jahre vor Dave die Highschool in Pikesville besucht. Vielleicht hatte Mrs. Baumgarten von vornherein geplant gehabt, den Brief einfach unbemerkt auf der Theke liegen zu lassen. Oder vielleicht hatte sie ihn als Ersatzlösung parat gehalten für den Fall, dass sie nicht den Mut aufbringen würde, ihn direkt anzusprechen. Wie merkwürdig die letzte Zeile klang, als ob sie daraus eine generelle Frage machen und sich als geschädigte Partei in den Mittelpunkt stellen wollte.
In dem Bruchteil einer Sekunde, bis Dave der Ausdruck »gehörnter Ehemann« in den Sinn kam und er ihn auf sich selbst bezog, spürte er einen Tick Mitleid mit dieser Frau. Vor
noch gar nicht allzu langer Zeit waren die Lokalblätter voll davon gewesen, wie die Frau des Gouverneurs vom Pressesprecher ihres Mannes hatte erfahren müssen, dass er die Scheidung eingereicht hatte. Sie hatte sich daraufhin ganz zurückgezogen, überzeugt, dass ihr Mann schon wieder zur Besinnung kommen würde. Sie hatte einiges mit dieser Frau gemeinsam – beide waren aus einem besseren Viertel Baltimores, jüdisch, rundlich und gut gekleidet, beide waren für den Erfolg ihres Mannes unerlässlich. Affären waren ein Privileg der Männer, etwas, das Frauen entweder tolerierten oder nicht tolerierten. Die Frauen bei den Affären waren jung, knackig und frei verfügbar – Sekretärinnen und Stewardessen, Goldie Hawn in Die Kaktusblüte . Miriam konnte gar keine Affäre haben. Sie war schließlich Mutter und dazu noch eine gute. Arme Mrs. Baumgarten. Ihr Mann betrog sie mit Sicherheit, aber in ihrer Wut hatte sie wild um sich geschlagen und war dabei auf Miriam gestoßen, weil sie das nächstliegende Ziel darstellte.
Er rief Miriam im Büro an und ließ es klingeln, doch die Sekretärin nahm nicht ab. Ach so, Miriam war wahrscheinlich noch unterwegs und sah sich ein Haus an, und die Sekretärin war schon weg. Er würde sie heute Abend darauf ansprechen, etwas, das er sowieso öfter tun sollte, Miriam nach ihrer Arbeit fragen. Es lag bestimmt an der Arbeit, dass sie in letzter Zeit so selbstbewusst auftrat. Es waren die Provisionen, die für das Glühen ihrer Wangen sorgten, den Schwung in ihrem Schritt, die nächtlichen Schluchzer im Badezimmer.
Die Schluchzer aus dem Badezimmer? Aber nein, das war Sunny, arme sensible Sunny, für die die neunte Klasse zu einer Folter geworden war, nur weil er und Miriam sich mit den anderen Eltern wegen der Busstrecke angelegt hatten. Wenigstens hatte er sich das eingeredet, wenn er spätnachts in seinem Arbeitszimmer das unterdrückte Weinen aus dem Badezimmer oben an der Treppe hörte. Er saß in seinem Arbeitszimmer
und gab vor, Musik
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