Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
obgleich er sich nichts hat anmerken lassen, weiß ich, dass er mit einem Mal von seiner Geschichte erschöpft ist. Lange Zeit spricht keiner von uns, als müssten wir die Erzählung zwischen uns ruhen lassen, ihr eine Atempause gönnen. Mir fällt eine Geschichtsstunde in der Schule ein: Ein Lehrer – wir nannten ihn D. das R., aus welchem Grund auch immer – erzählte uns vom Leben im Mittelalter in England. Er redete von Kindersterblichkeit, Pest, Hunger, davon, dass alle Eltern, die ein Kind bekamen, wussten, dieses Kind – und im Übrigen auch jedes andere Familienmitglied – konnte ihnen jederzeit entrissen werden. Ich weiß noch, dass ich ihn unterbrach, und auch, was ich sagte. Ich meldete mich und sagte: »Aber Mr. Rogers …« So hieß er, Rogers. »Glauben Sie wirklich, dass die Menschen damals unglücklicher waren als heute?« Ich hatte es als eine philosophische Frage gemeint, doch Mr. Rogers explodierte. »Was denn sonst, Laura? Also, wenn man am Verhungern ist, gerade sein drittes Kind verloren hat und einem von der Lepra der nächste Zeh abgefallen ist, doch, dann dürfte man wohl schon relativ unglücklich sein.« Die Antwort schoss über das Ziel hinaus. Daran, wie der Rest der Klasse die Augen verdrehte, merkte ich, dass sie auf meiner Seite waren. »Aber«, trällerte ich mit weit aufgerissenen Augen, kleines Fräulein Neunmalklug, »meinen Sie nicht, dass das Glücksgefühl von der Erwartungshaltung abhängt?« Ich kann mich noch an Mr. Rogers’ Seufzer erinnern, daran, wie gequält er dreinschaute. Ach, Mr. Rogers, wenn Sie mich jetzt sehen könnten!
Da sitzen wir, Mr. A. und ich, an meinem Küchentisch. Seine Schultern hängen herab, als wären sie zu schwer für seinen Körper. Er setzt kurz neu an. »Wir kommen her, nach dem Krieg, er geht zu Ende … es gibt viel … es war mein Schwager, die Arbeit. Der Neffe, er war dann schon ein Junge. Schule. Arbeit.« Damit endet er.
Erneut kommt ein langes Schweigen zwischen uns auf, und ich merke, dass Mr. A. am Ende angelangt ist – nicht, dass seine Geschichte abgeschlossen wäre, sie wird nie abgeschlossen sein; er ist einfach am Ende seiner Fähigkeit zu sprechen angelangt. Ich habe genügend Berichte des Upton Centre gelesen, um mir den Rest selbst zusammenreimen zu können. Und nun geht also die Kette der Verantwortung für den Tod meiner Tochter, die mit Aleksander Ahmetaj beginnt, weiter zurück über den Neffen, über die Person, die einen Verkehrsleitkegel auf dem Bürgersteig stehen ließ, über die unbekannten Kinder in St. Michael’s, die den Neffen wegen seines fremden Namens und Akzents gemobbt haben, sehr viel weiter zurück und hört erst bei einem Milizionär auf, der ein Neugeborenes am Leben ließ, nachdem er seinem Vater die Augen ausgestochen hatte. Wenn ich einen Schuldigen suche, einen, bei dem die Schuld beginnt, muss ich dann nicht den Milizionär finden, der ein schreiendes Baby im Wald zurückließ? Warum dort aufhören? Wer oder was hauchte diesem Mann das Fünkchen Barmherzigkeit ein, das ihn davon abhielt, ein Baby zu töten, nachdem er schon so viel Schlimmeres verbrochen hatte?
Beim Sprechen hielt Ahmetaj den Blick die meiste Zeit auf den Küchentisch oder sein Glas gesenkt, doch jetzt hebt er den Kopf und sieht mich an. Seine Augen sind hart, der Ausdruck darin unergründlich, aber etwas in ihnen verschafft mir einen gewissen Eindruck von ihm als jüngerem Mann. Ich stelle ihn mir vor zwanzig Jahren vor, bevor ihm der Schmerbauch wuchs, als seine breiten Schultern und großen Hände im richtigen Verhältnis zu einem jungen, starken Körper standen. Ich stelle ihn mir im Unterhemd vor, ein Land- oder Fabrikarbeiter, selbstbewusst, aus einer in seinem Dorf angesehenen Familie. Wahrscheinlich hat er vorteilhaft geheiratet – ich frage mich, was damit wohl schiefgelaufen ist. Wahrscheinlich war seine Kindheit und Jugend in mancher Hinsicht viel glücklicher als meine. Ich stelle ihn mir im Anzug vor, wie er am Tag seiner Hochzeit tanzt, und in dem Moment überkommt es mich: das obszöne Verlangen, mit ihm zu schlafen. Etwas vom Schockierenden dieses Gedankens muss sich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn er starrt mich an. Ich möchte das Unpassendste tun, was mir überhaupt in den Sinn kommt, und weiß nicht einmal, warum – ich will mit diesem Mann schlafen, genau hier auf meinem Küchentisch, hart und brutal. Ich will alles andere auslöschen, was zwischen uns geschehen ist, und alles andere, was anderswo
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