Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
so schlecht mit seiner Normalität klar, auch wenn ich weiß, es liegt nur daran, dass sein Bewusstsein die Unveränderlichkeit des Geschehenen nicht erfassen kann, jedenfalls noch nicht. Sicher wird es irgendwann zu Trotzreaktionen kommen, zu aufmerksamkeitsheischendem Verhalten, und ich erwarte das ungeduldig, warte auf die Bestätigung. Wie soll ich denn begreifen, was uns zugestoßen ist, solange er es nicht versteht? Ich bin mit ihm in Alltagsroutine gefangen, muss verhandeln, welche Müsliflocken er zum Frühstück will oder warum er seinen grauen Pulli nicht mehr mag. Während derartiger Gespräche mit ihm komme ich mir komplett verrückt vor.
Seine Kindergartenvormittage verschaffen mir eine große Erleichterung von der Anspannung, die es bedeutet, ihm zuliebe normal sein zu müssen. Julie kommt ihn abholen. Kreischend wetzt er aus dem Haus. Julie verzieht das Gesicht und sagt sanft: »Bis später.« Die Tür schließt sich hinter ihnen. Ich seufze so tief, dass der Laut in einem Stöhnen endet. Die Stirn gegen die Milchglasscheibe gelehnt, schließe ich die Augen, warte, bis das Geräusch von Julies Automotor verklingt, warte auf die Stille, die folgen wird. Erst wenn es draußen hinter der Tür vollkommen still ist, mache ich kehrt, gehe langsam in meine Küche und setze mich an den Tisch.
Manchmal bin ich drei Stunden später immer noch dort, wenn mich das Geräusch, wie Rees unseren Gartenweg entlangtobt und sich gegen die Haustür schmeißt, ins Leben zurückruft: Wenn Rees nicht wäre.
Nachmittags spiele ich mit Rees oder lasse ihn fernsehen. Wenn er wieder da ist, fühle ich mich eher in der Lage, ans Telefon zu gehen, als vormittags, weil ich es mir mit ihm im Haus erlauben kann, abgelenkt zu sein. Seine Hintergrundgeräusche bewahren mich vor einem richtigen Gespräch. David ruft mich dann an. Ich erzähle ihm, was für Bilder Rees aus dem Kindergarten mitgebracht und was er zu Mittag bekommen hat. Dafür versorgt mich David mit Nachrichten aus der Außenwelt, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie seltsam es ist, dass er dort draußen ist, bis mir einfällt, dass er an Chloe und das Baby zu denken hat. Er wird bald wieder arbeiten gehen, das weiß ich.
»Hast du von dem Ärger oben auf der Steilküste gehört?«, fragt er mich eines Nachmittags. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. »Ein paar jugendliche Randalierer von hier sind raufgegangen und haben alle Fenster eingeschlagen. Diese Polizistin war bei uns.« Er meint Toni. »Ich hab gesagt, wenn das noch mal passiert, würde ich an die Post schreiben. Das könnte helfen.« Ich weiß nicht, warum er mir das erzählt. Ich glaube, er würde so gut wie alles sagen, um nicht über unsere Tochter reden zu müssen. Als Nächstes kommen Wirtschaftsfragen oder die europäische Agrarpolitik. Weil ich nicht unfreundlich zu ihm sein möchte – jeder hat ein Recht auf seine eigene Trauer –, nicke ich, obwohl er mein Nicken nicht sehen kann, und lasse seine Worte und seine seltsame Themenwahl über mich ergehen, während ich den Telefonhörer ans Ohr halte und aus dem Küchenfenster schaue. Nach einer Weile frage ich: »Möchtest du mit Rees sprechen?«
Rees kann ewig und drei Tage auf seinen Vater einbrabbeln. Manchmal überlasse ich ihm das Telefon, gehe nach oben in Bettys Zimmer, krieche unter die Decke und ziehe sie mir über die Schultern, das Gesicht zur Wand. Rees kommt später rein, das Telefon noch in der Hand, obwohl sein Vater aufgelegt hat, und fragt: »Kann ich jetzt fernsehen, Mum?«
Eines Nachmittags schlafe ich dort oben ein, und als er an meiner Schulter rüttelt, ist es draußen dunkel. » Mummy «, sagt er, und seine Stimme klingt ganz aufgebracht, als wiederholte er sich, »Mummy, hör auf , in Bettys Bett zu schlafen. Es ist ihrs .«
»Oh, tut mir leid, Schatz …«, sage ich und blinzele in das Schummerlicht vom Treppenabsatz. »Entschuldige, wie spät ist es?« Ich halte meine Uhr ans Gesicht und brauche eine Weile, bis ich die Zahlen erkennen kann. Kurz vor sechs.
Ich stütze mich auf den Ellenbogen. »Meine Güte, Rees, du hast Ewigkeiten ferngesehen. Jetzt ist schon fast Zeit zum Zähneputzen. Bald ist Schlafenszeit, weißt du.«
Sein Gesicht fällt in sich zusammen. Als er redet, erkenne ich an der schrillen Stimmlage, dass er die Tränen unterdrückt: »Aber was ist mit Abendessen? Wir haben noch nicht zu Abend gegessen.«
Allmählich wagen Rees und ich uns raus. Eines Nachmittags beschließe ich, es mit dem
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