Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
Ihr Bein war immer noch stark geschwollen, und der Bruch ist nicht ordentlich verheilt. Sie haben sie in die nächstgrößere Uniklinik verlegt, auf die pädiatrische Intensivstation, aber zwölf Stunden nach der Aufnahme ist sie verstorben. Blutvergiftung, Sie wissen ja, wie schnell das gehen kann, aber sie hätten es rechtzeitig erkennen müssen. Es wird eine Untersuchung geben.«
Ich hebe Bettys Schal an und vergrabe mein Gesicht darin. Lieber Gott. Der Schmerz fühlt sich so heftig an wie in einem der reinen Momente, aber dennoch nicht rein. Ich kann ihn kaum aushalten, spüre ihn andererseits jedoch kaum. Nicht einmal mir selbst kann ich meine Gefühle auch nur ansatzweise erklären.
»Lieber Himmel. Sally …«, sage ich hilflos.
»Sally und Stephen waren bei ihr, als sie gestorben ist«, sagt Toni. »Wenigstens das.«
»Weiß David es schon?«
Toni nickt. »Ich hab ihn angerufen, bevor ich hergekommen bin, für den Fall, dass er es Ihnen selbst sagen wollte. Ich glaube, das hätte er auch gern getan, aber weil es bei ihm zurzeit gerade ein wenig schwierig ist, hab ich mich erboten.« Feigling , denke ich rasch. Toni redet weiter: »Die Beerdigung wird wahrscheinlich am Freitag sein. Sie regeln das heute.«
Ich ergründe meine Gefühle, bemüht festzustellen, was in mir unverfälscht ist. Kann ich ehrlich behaupten, dass nirgends auch nur ein noch so winziger Teil von mir erleichtert ist, weil mir das Gespräch mit Willow erspart bleibt, das ich befürchtet hatte, darüber, was genau an jenem Tag passiert ist? Bin ich vielleicht erleichtert, dass ich nicht mehr allein bin, obwohl Sally eine der Letzten ist, mit der ich gern nicht allein wäre; erleichtert (und das, meine ich, trifft es am ehesten), dass ich zumindest ein Weilchen nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen werde, sondern ein Partikel in der Tragödie eines anderen Menschen sein kann? Wie grauenvoll, dass ich, wenn auch nur kurzfristig, so einen Funken Erleichterung empfinden kann. Mir ist schlecht. Ein Mädchen ist gestorben.
»In der Stadt wird es eine Zeit lang Zündstoff für Konflikte geben«, sagt Toni nachdenklich. »Wir mussten eine sogenannte ›Goldgruppe‹ auf die Beine stellen. Zu solchen Maßnahmen greifen wir, wenn, nun ja, irgendwelche Spannungen in der Bevölkerung aufkommen. Wenn Sie möchten, gehe ich Punkt für Punkt mit Ihnen durch, was wir tun und wo genau wir in den Ermittlungen stehen.«
Ich nicke, bevor ich aufstehe. Ich will nichts mit ihr durchgehen, rein gar nichts davon. Betty ist tot, und jetzt Willow. »Schon gut. Sie brauchen nicht zu bleiben.«
In dieser Nacht kann ich nicht schlafen. Normalerweise schaffe ich es, ein oder zwei Stunden wegzunicken, bevor ich aufwache, aber in dieser Nacht will sich die Bewusstlosigkeit nicht einstellen. Ich liege in Bettys Bett und denke an Sally und Stephen, wie neu und wie roh ihre Trauer ist, daran, dass sie mit Sicherheit auch wach sind, durch ihr Haus wandern und einander immer wieder ungläubig anstarren.
So liege ich lange Zeit da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und warte auf den Moment, wenn mir danach ist, mich in Embryonalhaltung auf die Seite zu drehen, meinen Körper so abzuschotten, dass meine Gedanken ihn verlassen können. Der Moment bleibt aus. Gegen zwei Uhr morgens stehe ich auf, sehe nach Rees, der leise atmet, gehe im Morgenmantel nach unten und ziehe ihn zitternd fester um mich. Wie immer um diese Nachtzeit ist das Haus dunkel und fremd. Ich mache mir eine große Tasse Kamillentee und setze mich mit den Fotoalben an den Küchentisch – darin war David besonders gut. Er hat hunderte Fotos von den Kindern aufgenommen, früher immer alle Abzüge ein zweites Mal bestellt und den Tanten und einem weit entfernten Verwandten irgendwo im Nahen Osten die besten Aufnahmen geschickt, so weit entfernt, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Daher hatten wir am Ende immer zwei Abzüge von den nicht so guten Bildern – den unscharfen, auf denen Betty oder Rees den Kopf wegdrehten oder zu nah an die Linse herankamen; die, auf denen sie schielen oder die Augen zumachen. David wollte nie etwas wegwerfen. Halb volle Fotoalben und gelbe Umschläge mit Fotos waren über das ganze Haus verteilt. Es machte mich wahnsinnig. Ein Glück, dass irgendwann die Digitalfotografie Einzug hielt. Seit unserer Trennung wurden die Kinder kaum von mir fotografiert – außer zu besonderen Anlässen wie Geburtstag und Weihnachten. Aber irgendwo musste es all die Aufnahmen
Weitere Kostenlose Bücher