Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
mit Menschen. Über der Küchentür hängt ein Foto von Willow in DIN -A4-Format mit windgepeitschten Haaren auf einem Hügel, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Es wurde auf weißes Kopierpapier gedruckt und provisorisch mit Tesafilm befestigt. Julie und ich bleiben kurz im Flur stehen, und ich sehe gerahmte Fotos von Willow hintereinander aufgereiht auf einer Ablage unter dem Spiegel. In diesem Moment tritt Sally aus dem Wohnzimmer zu unserer Linken und sagt: »Kommt rein, ihr beiden, hier draußen im Flur ist es kalt. Kommt und nehmt euch was zu trinken.« Die Frau, die sich mit meiner Tragödie so schwergetan hat, scheint, zumindest nach außen hin, grotesk dazu entschlossen, ihre eigene auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich schaue ihr nach, wie sie Richtung Küche davonzieht, und frage mich, ob ihr Arzt sie unter Drogen gesetzt hat.
David und Chloe sind ganz hinten in der Küche. Als David mich sieht, drängelt er sich durch, um zu mir zu gelangen – Chloe bleibt natürlich stehen, wo sie ist. David umarmt mich so herzlich, als wären wir beiden die einzigen Menschen, die verstünden, was hier wirklich vor sich geht, was natürlich stimmt. »Ich bin so froh, dass du kommen konntest«, flüstert er. Mir fällt auf, dass David und ich seit dem Unfall zwar jeden Tag miteinander geredet, uns aber kaum getroffen haben. Zuvor ist mir das noch gar nicht seltsam vorgekommen; erst jetzt, im tröstlichen Gefühl des kurzen Umfangenseins.
Jemand drängelt sich hinter mir durch und rempelt mich an der Schulter an. David späht finster an mir vorbei, und ich erwarte schon, dass er jeden Moment losschimpft, wende mich halb um, doch er zieht mich sanft zurück, eine Hand auf meinem Oberarm. Ich lehne mich an ihn. Er riecht nach David. »Ich fühl mich so fremd«, sage ich zu ihm.
»Ich weiß«, antwortet er sanft, immer noch sehr nahe bei mir, in mein Haar geflüstert, »geht mir genauso.«
Nach einer halben Stunde kommt Julie zu mir und sagt, sie müsse jetzt los, um die Jungs abzuholen. Während ich mit ihr rede, entschuldigt sich David und geht zu Chloe. Mir reicht es hier schon. Es ist meine erste größere Geselligkeit seit dem Unfall, und allein das Herumstehen und Reden hat mich erschöpft. Ich möchte mit Julie gehen, habe aber noch mit niemandem außer David gesprochen und fühle mich verpflichtet zu bleiben. David kehrt zu uns zurück und reicht mir ein Gläschen Sherry. Julie verzieht sich. Ich nippe an dem Sherry und bereue es sofort. Bereits von einem winzigen Schlückchen wird mir schwindlig. David hält mir einen Teller mit Sandwiches hin. Ich nehme eins, knabbere die Kruste ab und halte es dann in der Hand, weil ich es nicht auf seinen Teller zurücklegen will. »Meine Güte, Laura«, sagt er leise, »ich mach mir solche Sorgen, wie dünn du bist.«
»Ist schon okay«, sage ich.
»O nein, bestimmt nicht«, antwortet er.
Ich würde gern die ganze Zeit bei David bleiben, habe mir aber fest vorgenommen, tapfer zu sein. Ich darf nicht nur an mich denken bei dem, was Willow zugestoßen ist, sondern muss zu erkennen geben, dass mir bewusst ist, um wen wir hier trauern. Ich gehe durch den Flur ins Wohnzimmer zurück, wo sich ältere Verwandtschaft in Grüppchen schart. Eine Frau, die am Kamin steht, kommt auf mich zu und fragt: »Laura?«
Ich nicke.
»Ich bin Willows Patentante Vivie«, sagt sie. »Wir haben uns voriges Jahr zu Ostern kennengelernt. Wie schön, dass Sie kommen konnten, obwohl Sie doch selbst Ihr Päckchen zu tragen haben.« Bei dem Euphemismus verziehen wir beide das Gesicht, und ich weiß jetzt wieder, wo ich ihr schon mal begegnet bin. Sie hat an einer Ostereiersuche teilgenommen, die eine der anderen Mütter vor ein, zwei Jahren in einem Park veranstaltet hat. Sie hatte eine Riesenthermosflasche Kaffee und ein halbes Dutzend Plastiktassen dabei. Damals hat sie mir erzählt, warum sie nie eigene Kinder bekommen hat; es hatte irgendwas mit ihrer eigenen Adoption zu tun.
Eine Zeit lang stehen wir mitten im Wohnzimmer und unterhalten uns höflich. Ich beglückwünsche mich dazu, wie gut ich das schaffe, und gestatte mir selbst einen winzigen Anflug von Stolz darauf, wie normal ich reden kann; dass ich den Teil von mir überwinde, der immer noch über die Nichtigkeit von allem außer meinem eigenen Verlust schreien möchte. Vielleicht erreicht Willows Tod das für mich: Er eröffnet mir eine Perspektive. Wie abscheulich, dass ich, und wenn auch nur eine Millisekunde, von fremdem Elend
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