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Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Titel: Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Doughty
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die nach vielen Jahren in einem Pflegeheim im Schlaf gestorben war, aber auch die Mutter, die ich gehabt hätte, wenn ihre Krankheit sie nicht ereilt hätte, als ich noch so jung war. So gesehen, erklomm meine Trauer eine Stufe reiner Selbstbezogenheit, die schon fast beängstigend war. Während ihrer Krankheit war ich so oft als tapfer bezeichnet worden, dass ich ihren Tod mit einem Ausmaß an Feigheit aufnahm, zu dem ich mich vollkommen berechtigt fühlte, als hätte ich in all den Jahren mein Selbstmitleid gehortet und ließe es erst jetzt heraus, um mich ihm hinzugeben, da meine Mutter nicht mehr da war als lebendes Beispiel dafür, wie viel schlechter es ihr im Vergleich zu mir ging. Ich trauerte um den Menschen, der aus mir geworden wäre, wenn ich bei einer gesunden Mutter aufgewachsen wäre.
    Drei Wochen nach der Beerdigung meiner Mutter kam David eines Abends ins Schlafzimmer, wo ich im Bett saß und ein Buch mit dem Titel Ein langes, erfülltes Leben las – meine Kollegin Sunita hatte mir ihre zerfledderte Taschenbuchausgabe geliehen. Ihr Vater war an einer neuromuskulären Krankheit gestorben. Habe man das Kapitel über Rebirthing hinter sich, so sagte sie, finde sich einiges Interessante darin. Ich hatte gerade den Satz gelesen: »Die Erkenntnis, dass die Umgebung Trauer um ein bejahrtes Elternteil als übertrieben oder maßlos betrachtet, kann schmerzhaft sein.«
    David stand am Bett und zog beide Schultern zurück. »Ich glaube, ich muss meinen Bürostuhl wieder vom Betriebsarzt überprüfen lassen«, sagte er. Er hatte an seinem Zeichentisch in der Firma alle möglichen verschiedenen Bürostuhlmodelle ausprobiert, keiner war der Richtige. David selbst war das fehlerhafte Modell, sein großes, unvollkommen konstruiertes Knochengerüst.
    Ich schaute zu ihm hoch, aus dem gelben Lichtoval, das von der Klemmlampe am Kopfteil des Bettes auf das Buch fiel. Die Lesebrille auf der Nasenspitze, betrachtete ich ihn gleichmütig. Als er merkte, dass ich ihn ansah, trat er einen Schritt auf mich zu und drehte sich um. »Hier ist es«, sagte er, »tiefer als sonst, ganz hier unten.« Er stupste sich im Kreuz an und beugte sich dann mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
    »Nimm ein Ibuprofen«, sagte ich und las weiter.
    Und dann war da Betty in ihrer ganzen Pracht; Betty, die jeden Morgen in unser Bett kletterte und sich volle dreißig Sekunden lang zwischen uns kuschelte, ehe sie befand, dass es Zeit sei, aufzustehen und mein Kissen – über das mein Haar noch gebreitet lag – als Trampolin zu benutzen; Betty, die sich weigerte, etwas anderes als ihre lila Jeanshose mit dem aufgestickten Hund auf dem Brustlatz zu tragen. Hundehose hieß sie bei ihr. Sie hätte darin geschlafen, wenn wir sie gelassen hätten. Wenn ich die Hose in die Waschmaschine steckte, schrie sie wie am Spieß. Als sie schon zur Schule ging, stolperte ich über eine Videokassette von ihr im Alter von achtzehn Monaten und zerrte gleich den alten Fernseher mit Videorekorder aus dem Haufen von Gerümpel in der Abstellkammer hervor, um mir das anzusehen. Während einer größeren Geselligkeit mit lauter Erwachsenen tapste sie in ihrem putzigen Aufzug durch das Wohnzimmer im Haus von Tante Lorraine und haute allen mit einem aufblasbaren Hammer auf die Knie. Obwohl die Gesichter der Erwachsenen in der Szene nicht im Bild waren, ging aus dem kreischenden Gelächter auf der Tonspur eindeutig hervor, dass wir diesen Auftritt alle miteinander außerordentlich raffiniert und witzig fanden. Betty drehte sich immer mal wieder zur Kamera um und wedelte fröhlich mit dem Hammer. Ich brauchte ein Weilchen, um darauf zu kommen, was mich an der Szene irritierte. Erst als sie mit einem Finger auf die Kamera zeigte, dann auf etwas, das die Kamera nicht sehen konnte, wieder zurückschaute und »Schusch!« sagte, fiel es mir ein. Sie redete nicht. Warum redet sie nicht?, dachte ich, vorübergehend perplex. Ach ja, natürlich, sie war ja erst achtzehn Monate alt. Sie konnte noch nicht richtig sprechen. Wie seltsam, dass es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der sie nicht sprechen konnte, in der selbst »Hundehose« noch unvorstellbar weit von ihrem Sprachvermögen entfernt war. So etwas verblüffte mich immer wieder: dass jede nachfolgende Betty die Vorgänger-Betty überlagerte – und doch steckten sie alle noch in ihr drin, wie bei einer russischen Puppe oder einer Papiergirlande, wie man sie bastelt, wenn man ein Blatt Papier mehrmals zusammenfaltet, es

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