Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
hatte Rees sich immer weiter in seinen Schreianfall hineingesteigert. Als Sally ihn mir zurückreichte – widerstrebend, denn damit gab sie ihr Versagen zu –, war er Rote-Bete-farben angelaufen.
»Also ehrlich«, plapperte ich auf David ein, der mir den Rücken zukehrte und sich mit der eingekochten, angebrannten Kruste von irgendwas auf dem Kochfeld befasste, »dieser Frau sollte mal jemanden erklären, dass das Großziehen von Kindern keine sportliche Wettkampfdisziplin sein muss. Nur weil sie nichts anderes hat, was sie im Leben ausfüllt, nur deshalb ist sie so drauf versessen, anderen zu helfen. Und dann, als ich ihn endlich angelegt hatte, hat sie versucht, mir zu sagen, dass …«
Ich erzählte David diese Geschichte genauso, wie ich ihm alle meine Geschichten aus meinem Alltag mit Rees erzählte: mit einem Anflug fröhlicher Verzweiflung, auf die er nie ansprang. Ich versuchte, seine Faszination von Betty als Neugeborener zu neuem Leben zu erwecken, unser beider Freude von damals. Doch zu dem Zeitpunkt war Chloe bereits auf der Bildfläche.
Chloe trat in unser Leben, bevor Rees auf die Welt kam, noch bevor er überhaupt gezeugt war, als Betty erst vier war. David war gerade befördert worden, zum Chefdesigner. Er entwarf keine Füllfederhalter – deren Design stand für ewig und allezeit fest –, sondern die Maschinen, die die Füller herstellten, die Fräsen, Pressen und Schmelzen. Soweit ich das beurteilen konnte, bedeutete Chefdesigner, dass er eher weniger als mehr Entwürfe zeichnete. Stattdessen wurde er zu endlosen Management-Meetings mit den Männern genötigt, die darüber zu entscheiden hatten, wie viele andere Frauen und Männer aufgrund seiner optimierten Entwürfe für die Maschinen ihre Arbeitsplätze verloren. Im Herzen war er technischer Zeichner. Er brütete gern stundenlang über großen Reißbrettern mit jeder Menge sehr spitzer Bleistifte, in der Stiftablagerille oben fein säuberlich nebeneinander aufgereiht. Nach seiner Beförderung verbrachte er mehr Zeit mit den Männern in Anzügen und weniger Zeit mit den angespitzten Bleistiften. Chloe war seine Nachfolgerin, von der Konkurrenz abgeworben.
Ich wusste es. Ich weiß, dass jede das im Nachhinein sagt, aber bei mir war es so; ich hatte eine Vorahnung. Zwei Wochen nach seiner Beförderung kam David von der Arbeit nach Hause und sagte, kaum dass er zur Tür herein war: »Heute hat mein neues Ich angefangen.«
Er stand im Flur und schlüpfte aus seinen Schuhen. Ich war aus der Küche gekommen, um ihn zu begrüßen, wie ich es damals noch tat. Normalerweise wickelte sich Betty um seine Beine, aber im Fernsehen lief eine Lieblings-Zeichentrickserie, vor der sie wie gebannt festsaß.
»Ach ja?«, machte ich, und selbst da, noch bevor ich wusste, dass seine Nachfolge weiblich war, spürte ich etwas im Magen.
Er ging an mir vorbei in die Küche. »Sie heißt Chloe«, sagte er über die Schulter.
Ich ging ihm nach. Er marschierte auf direktem Weg zum Brotkasten und klappte den Deckel hoch.
»Ich hab Hühnchen gemacht«, sagte ich. »Wie ist sie so?«
Er zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange. »In Ordnung, nett. Ihr Lebenslauf ist erstaunlich. Kann’s kaum erwarten, mit ihr zu reden.«
Ich ging an ihm vorbei zum Wasserkocher. Während ich ihm den Rücken zukehrte, ergänzte er: »Vielleicht geh ich morgen mit ihr zu Mittag essen.«
Den Rest der Geschichte hätte ich genau da und dort schreiben können, noch am selben Abend.
9
Mein Verdacht kam genauso rasch zustande wie die Affäre, doch es sollte ein halbes Jahr dauern, bis ich ihn zur Rede stellte. Es sagt einiges über Davids mutwillige Arglosigkeit, dass er sich während dieser gesamten Zeit auf seinen Telefonrechnungen nach wie vor Einzelverbindungsnachweise erstellen ließ. Ich kann mich noch erinnern, wie widerwärtig mir nach unbefugtem Eindringen zumute war, wie viel Furcht ich empfand, als ich diese Rechnungen aus dem Pappordner zog, den er auf einem Regalbrett im Abstellraum aufbewahrte – die persönlichen Papiere des Ehemannes: Pornografie für Verzweifelte. An einen Vers, den wir im Chemieunterricht gelernt hatten, erinnerte ich mich da, als ich mitten in den Rechnungen innehielt, um die Tür zum Flur zu schließen, obwohl ich zu der Zeit allein zu Hause war: Als Johnny gierig trank /verließ ihn jegliche Gier/Denn was er für H2O hielt/war H2SO4. Wie viele Lügen kann man in einem halben Jahr erzählen? Bei – konservativ geschätzt – einer am Tag kommt
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