Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
nachzudenken.
Was ihr Vikar Ballard über Debbie und ihre Mutter anvertraut hatte, war so brisant, dass sie immer noch aufgewühlt war. Ihr war natürlich immer schon klar gewesen, dass Debbie und ihre Schwester Constance eine besonders schwere Kindheit hinter sich hatten. Bis zu ihrem Tod vor vier Jahren – da war sie Ende vierzig gewesen – hatte Mary-Ann Farrow als schlecht bezahlte Köchin in einem Kinderheim geschuftet, um ihren beiden Mädchen eine anständige Ausbildung zu ermöglichen. Es dürfte ihr größter Triumph im Leben gewesen sein, dass aus Debbie und Constance tatsächlich etwas Vernünftiges geworden war.
Schon oft hatte Emily sich gefragt, warum eine hübsche Frau wie Mary-Ann nie heiraten wollte. Nun kannte sie die bittere Erklärung dafür. Mary-Ann musste damals davon ausgegangen sein, dass ihr Leben so oder so verpfuscht war, ganz gleich, welche Entscheidung sie traf. Und mit Sicherheit hing ihr Entschluss, niemandem von der Vergewaltigung zu erzählen, auch mit den moralischen Grundsätzen ihrer Familie zusammen. Denn als strenggläubige Methodisten, die jeden Sonntag zweimal den Gottesdienst besuchten, hätten die Farrows nach dieser »Beschmutzung« wohl kaum noch zu ihrer Tochter gehalten. Dagegen war das uneheliche Kind nur eine »Verfehlung«, zwar nicht minder verachtenswert, aber als Zeichen menschlicher Schwäche vielleicht noch zu verzeihen.
Dennoch blieben aus Emilys Sicht ein paar entscheidende Fragen offen.
Nachdem Debbie von ihrer Mutter die Wahrheit erfahren hatte – wie hatte sie da wohl reagiert? War Godfrey Ballard tatsächlich der Einzige, den sie eingeweiht hatte? War es ihr peinlich, wie sie entstanden war? Oder hatte sie vielleicht sogar nach dem Tod ihrer Mutter Kontakt zu ihrem leiblichen Vater aufgenommen?
Mit feiner Handschrift hatte Emily gleich nach der Rückkehr von ihrem Gespräch mit Vikar Ballard aufgeschrieben, was sie bis jetzt über Debbies Leben wusste. Bei genauer Betrachtung war es gar nicht so viel. Allerdings würde mit Sicherheit noch eine ganze Menge hinzukommen, wenn sie erst einmal anfing, ihr Gedächtnis auf Hochtouren laufen zu lassen.
Doch so viel wurde ihr jetzt schon klar: Für den Mord an Debbie konnte es viel mehr Motive geben, als sie alle ahnten.
Die Polizei schien bisher davon auszugehen, dass ein eifersüchtiger Liebhaber mit im Spiel war. Ein Sexualverbrechen oder ein Raubmord wurden jedoch ausgeschlossen. Alles sprach dafür, dass Debbie den Täter gut kannte.
Natürlich konnte der Täter derselbe sein, der auch die Polin Jolanta Nowak umgebracht hatte. Vor allem Detective Inspector Waterhouse favorisierte diese Idee. Doch wo war der gemeinsame Nenner zwischen beiden Fällen?
Der eifersüchtige Liebhaber passte irgendwie nicht zu Debbie. Es passte nicht zu ihrem komplizierten Leben. Sie gehörte keiner Szene an, sie war immer noch in Trauer um ihr Kind, und sie war zurückhaltend, was neue Beziehungen anging.
Nein – Debbie Farrows Tod musste eine eigene, eine besondere Geschichte haben.
Plötzlich schoss Emily ein gewagter Gedanke durch den Kopf. Was, wenn Debbie tatsächlich Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war? Jeder wusste, dass Debbie impulsiv, drängend und wütend sein konnte. Auch sie selbst hatte ihren David ohne Vater aufgezogen und dessen Namen für sich behalten. Sie konnte also die schwere Situation ihrer Mutter gut nachvollziehen.
Debbie könnte ihrem leiblichen Vater gedroht haben, mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Vergewaltiger müsste heute ein älterer Mann sein. Wenn er wirklich einer der alten, vornehmen Gutsbesitzerfamilien auf Jersey angehörte, hätte er einiges zu verlieren gehabt.
War dieser Mann Debbies Mörder?
Emily schloss die Augen, und schon bewegten sich ihre Gedanken rückwärts, suchten alle Begegnungen ab, die sie in letzter Zeit mit Debbie Farrow gehabt hatte. Beim 26. Januar blieben sie schließlich stehen. Vor sechs Monaten.
Es war nachmittags um kurz nach drei. Durch das Schaufenster winkte Debbie fröhlich zu ihr in den Teeladen. Nur Sekunden später klingelte die Türglocke, und Debbie stand vor ihr. Ihr Pullover war nass vom Sprühregen, der schon seit dem Morgen wie ein feiner Nebel vom Himmel fiel. Das war der Preis für die Lage der Insel am Golfstrom und für die milden Winter, in denen das Thermometer selten unter acht Grad Celsius fiel.
Debbie kaufte grünen Tee, die aromatische Sorte.
»Du siehst heute so
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