Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
damit du selber im Archiv rumschnüffeln kannst.«
Emily gab sich geschlagen. Einen Streit mit ihrer ältesten Freundin wollte sie unbedingt vermeiden. Und Helen war nun einmal, wie sie war – das Herz auf der Zunge, manchmal auch launisch, aber immer ehrlich und treu.
»Einverstanden. Und jetzt ab mit dir ins Bett!«
»Besten Dank.« Kichernd und erfreut über diesen versöhnlichen, schlüpfrigen Schlussakkord legte Helen auf.
Als Constance zum Abendessen erschien, duftete sie nach Emilys Duschgel und trug ein kleines, rundes Päckchen in der Hand. Es war in gelbes Geschenkpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen. Lächelnd überreichte sie es Emily. »Für Sie. Es war das Einzige, was ich auf die Schnelle besorgen konnte.«
Emily legte das scharfe Messer aus der Hand, das sie gerade für die beiden Käsestücke aus der Küche geholt hatte, und nahm das Präsent entgegen. »Also bitte, Constance, ich freue mich doch auch ohne Geschenk, dass du hier bist …«
»Ich weiß. Aber ich bin gespannt, ob Sie auch noch wissen, warum ich im Laden nicht daran vorbeigehen konnte.«
Neugierig beobachtete Constance, wie Emily das Geschenkpapier aufriss und eine Schachtel mit Pistazien-Pralinen auspackte.
»Natürlich! Die letzte Nachhilfestunde vor Weihnachten!«, rief sie aus. »Jonathan hat mit dir Mathematik geübt. Und dabei habt ihr heimlich meinen ganzen Vorrat an Pistazien-Pralinen gefuttert, den ich mir für die Weihnachtstage angelegt hatte.«
»Drei Schachteln.« Constance nickte. »Gott, war mir hinterher schlecht!«
»Danke. Das ist sehr lieb von dir, dass du daran noch gedacht hast.«
Sie gingen zum Esstisch, der in einer verglasten Veranda zwischen Küche und Wohnzimmer stand.
»Ich denke dauernd daran, Mrs. Bloom … Ich meine, an diese Zeit«, sagte Constance. »Ich war zwölf, Debbie war achtzehn … Wir haben uns ständig gefetzt. Und dann auch wieder eine Menge Quatsch zusammen gemacht. Wenn ich so überlege, waren das die einzigen Jahre, in denen wir so normal wie andere Mädchen waren …« Sie brach ab. Ihr Mund zuckte, während sie voller Emotionen mit beiden Händen auf dem Rand der Stuhllehne hin und her fuhr.
Man muss gut auf sie aufpassen, dachte Emily, sie ist noch sensibler als Debbie.
Die Erkenntnis, wie intensiv bei manchen Menschen die unglücklichen Lebenslinien der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachwirkten, war erschreckend. Emily hatte sich schon oft gefragt, ob es ihr tatsächlich gelungen war, ihrem eigenen Sohn jede Art von belastender Erinnerung zu ersparen. Insgeheim ging sie davon aus, aber sie nahm sich vor, Jonathan bei nächster Gelegenheit vorsichtig danach zu fragen.
Nachdem Constance Platz genommen hatte, hielt Emily ihr einen großen Teller mit Schellfisch und ein Käsebrett hin. »So, jetzt lang erst mal ordentlich zu. Du musst ja mitten in der Nacht aufgestanden sein. Wann ging die Fähre?«
Constance legte sich zwei kleine Stückchen Räucherfisch, ein bisschen Cheddar und zwei Tomaten auf den Teller. »Ach, das war gar nicht so schlimm. Um zehn. Aber ich wohne ganz im Norden von Weymouth, und bis ich rechtzeitig mit dem Bus am Hafen war …«
»Wir müssen es ja heute nicht so spät werden lassen«, versprach Emily.
»Ich kann im Moment sowieso kaum schlafen. Und nach diesem schrecklichen Besuch im General Hospital … Ich darf gar nicht dran denken.«
»Dann solltest du das auch nicht tun. Wir haben später noch Zeit, über all diese Dinge zu reden. Natürlich nur, wenn du möchtest. Der Chef de Police wird dich mit seinen Fragen schon genug gequält haben.«
»Ach, eigentlich war er ganz nett. Höchstens ein bisschen …« Sie suchte nach dem passenden Wort.
»Wichtigtuerisch«, ergänzte Emily seufzend. »Ich weiß. Aber er hat hier nun mal das Sagen.«
Sie nahm die Flasche französischen Weißwein und goss beide Gläser voll. »Du hast ja gesehen, St. Aubin und St. Brelade’s Bay sind immer noch dieselben kleinen Welten.« Sie hob ihr Glas. »Santé! Darauf, dass du endlich wieder zur Ruhe kommst.«
»Danke, Mrs. Bloom.«
Auch Constance hob ihr Glas, trank aber nur einen winzigen Schluck. Im Kontrast zu den dunklen Haaren wirkte ihr ungeschminktes mädchenhaftes Gesicht im Schein der gedimmten Deckenlampe blass und mitgenommen.
»Es ist schon komisch«, sagte sie nachdenklich. »Jedes Mal, wenn man irgendwo anders war und wieder auf die Insel kommt, ist die Welt da draußen plötzlich ganz weit weg. Das ist mir heute auch
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